Christian Riechers

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Christian Riechers (* 2. April 1936 in Einbeck ; † 14. August 1993 in Hannover ) war ein deutscher Politologe .

Christian Riechers besuchte bis 1956 die Schule in seiner niedersachsischen Heimatstadt Einbeck. Zum Wintersemester 56/57 nahm er sein Studium zunachst in Marburg, dann Gottingen und schließlich an der Freien Universitat Berlin auf. Er begann mit Kunstgeschichte, spater folgten Soziologie, Philosophie und neuere Geschichte. In Berlin besuchte Riechers vor allem Seminare des Soziologen Otto Stammer , in denen er sich intensiv mit der Geschichte des italienischen Faschismus und der Analyse reaktionarer Ideologien auseinandersetzte. Er stand zunachst der SPD nahe, trat aber nach deren Bad Godesberger Parteitag und der dort beschlossenen Aufgabe sozialistischer Positionen dem Sozialistischen Deutschen Studentenbund (SDS) bei. Daruber hinaus engagierte er sich im linksstudentischen Argument-Club. Als seine wichtigsten außeruniversitaren Lehrer bezeichnete er die SDS-Mentoren Michael Mauke und Willy Huhn [1] . Willy Huhn war Ratetheoretiker und Linkskommunist , uber ihn lernte er die Geschichte des linksradikalen Flugels der internationalen Arbeiterbewegung kennen.

Nach Abschluss des Studiums ging Riechers 1963 als Deutschlehrer ans Goethe-Institut in Bologna und wurde spater Lektor an der Universitat Bologna und an der Scuola Normale Superiore (Pisa). Seine italienischen Jahre waren besonders fruchtbar: Er gibt 1967 eine von ihm ubersetzte und kommentierte Werkauswahl des kommunistischen Politikers Antonio Gramsci heraus und promoviert 1969 bei Hans-Joachim Lieber (FU Berlin) mit einer Monographie uber Gramsci. In Italien kommt er auch mit dem maßgeblichen Denker der italienischen Linkskommunisten Amadeo Bordiga in Kontakt, mit ihm bleibt er verbunden, ohne je selbst Mitglied einer linkskommunistischen, ≫bordigistischen≪ Gruppierung zu werden. Zum Wintersemester 1971 wechselte Christian Riechers an die Universitat Hannover, wo er am Institut fur politische Wissenschaft die Stellung eines akademischen Oberrates einnahm. Ab 1973 war Riechers maßgeblich am universitaren Projekt Arbeiterbewegung beteiligt. Bis zu seinem fruhen Tod ist er treibende Kraft und Seele dieses Projektes. In den 1970er Jahren arbeitete er am Jahrbuch Arbeiterbewegung mit und wurde in den 1980ern Mitherausgeber der Nachfolgereihe Jahrbuch Soziale Bewegungen: Geschichte und Theorie .

Sein wissenschaftlicher Nachlass befindet sich im Institut fur politische Wissenschaft der Universitat Hannover.

Christian Riechers ist der erste (west-)deutsche Ubersetzer Antonio Gramscis, seine Monographie ≫Antonio Gramsci: Marxismus In Italien≪ (Dissertation 1969, Veroffentlichung als Buch 1970) ist die erste uberhaupt auf Deutsch publizierte. Seine Ubersetzung und seine Auswahl aus den Schriften Gramscis sind bis zum Abschluss des historisch-kritischen Editionsprojekts seiner Gefangnishefte durch eine Herausgebergruppe um Wolfgang Fritz Haug und Klaus Bochmann maßgeblich gewesen. Unumstritten waren sie nicht, sie standen im Mittelpunkt zahlreicher Kontroversen: Die Auswahl galt Riechers’ Kritikern als zu selektiv und die Ubersetzung gar verfalschend. Der spatere Gramsci-Herausgeber und Ubersetzer Bochmann nimmt Riechers aber in Schutz, wenn er die Auswahl ?reprasentativ“ nennt und die Ubersetzung als den Zeitumstanden angemessen anerkennt [2] .

Noch umstrittener als die Ubersetzung galt seine Dissertation. Tatsachlich folgt Riechers in ihr dem Prinzip der kritischen Erledigung: Gramsci, um den es in den 60er Jahren in Italien einen regelrechten Kult gegeben hat, soll entzaubert werden. Riechers will nachweisen, dass sein Marxismus nur oberflachlich ist und er tatsachlich einem subjektiven Idealismus und einer nationalen Entwicklungsideologie folgt, die in der Praxis sich als Bevormundung des Proletariats erweist, intrigant gegen die linkskommunistische Partei-Opposition auftritt und sich den Herrschaftssicherungsstrategien der Sowjetunion unterwirft: ?Direktes Opfer des Faschismus, ist er zugleich ein indirektes Opfer der Degeneration der kommunistischen Bewegung.“ [3] Dort, wo Gramsci als Politiker auftritt, als Agitator der Turiner Ratebewegung oder als Kampfer gegen den Faschismus, will Riechers ihm eine illusorische Haltung gegenuber dem burgerlichen Staat und ein tiefes Unverstandnis des kapitalistischen Produktions- und Verwertungsprozesses nachweisen. Riechers folgt dem Anspruch, keinen Aspekt des Denkens Gramscis auszulassen und berucksichtigt, uber eine ideengeschichtliche Biographie hinausgehend, auch die italienische Sozialgeschichte in den ersten drei Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts. Er prasentiert eine Fulle von Belegen, die seine radikal kritische Haltung gegenuber Gramsci absichern. Sein Schluss: Gramsci vertritt ein ?anachronistisches Nachholenwollen der burgerlichen Revolution in einem von burgerlicher Herrschaft verschiedener Formen durch und durch gepragten Land“ [4] .

Die linke Kritik, die seine Dissertation recht irritiert aufnahm ? galt doch Gramsci in Deutschland als eine Art Wundermittel in der Auseinandersetzung um die Neubestimmung marxistischer Positionen ?, konnte letztlich gegen diese Dichte an Belegen kaum ankommen. Genauere Rezensionen, wie die von Gisela Bock [5] , haben jedoch zu zeigen versucht, dass Riechers durchaus selektiv vorgeht und Passagen Gramscis, in denen dieser sogar im Sinne Riechers’ argumentiert, nicht berucksichtigt. Auch die ? im Vergleich zur Gramsci-Kritik ? euphorische Adaption der Thesen seines Antipoden Amadeo Bordigas ist nicht immer wissenschaftlich zu begrunden. Riechers, so Bock, bleibe im Rahmen des bloß Polemischen. In spateren Einzelstudien hat es Riechers unternommen, seine Kritik an Gramsci zu vertiefen [6] . Gleichwohl hat er niemals dessen Rang als herausragender Denker und Stratege des 20. Jahrhunderts bestritten. Gewissermaßen ging es ihm ?nur“ darum, das interessierte Missverstandnis, Gramsci sei ein Marxist, aufzuklaren: ?Fur Gramsci ist Marxismus nur eine Spezifikation einer umfassenden idealistisch-philosophischen Weltanschauung.“ [7]

Obwohl Christian Riechers im Anschluss an sein Buch vier große Essays uber Amadeo Bordiga geschrieben hat, hat er sie nie zu einem großen Text zusammenfassen wollen [8] . Dabei ist Bordiga der zentrale Bezugspunkt seines Denkens. An Bordiga hat Riechers seine unbestechlich-rigide Haltung, sich keinem als faul erkannten Kompromiss zu unterwerfen, imponiert. Mit Bordiga mochte Riechers vor allem zwei Thesen starkmachen:

1. Der Kampf gegen den Faschismus ist erfolgreich nicht als Abwehrschlacht aller ?antifaschistischen“ Krafte zu fuhren, sondern nur als konsequenter Klassenkampf des Proletariats.

2. Einzig die Ausrichtung auf eine internationalistische Politik, auf die egalitare Weltpartei der Kommunistischen Internationale, hatte die russische kommunistische Partei vor der Stalinisierung bewahren konnen. Sein Bestreben war es, den zur Unperson der kommunistischen Bewegung erklarten Bordiga zu enttabuisieren und ihm vom Gerucht des Ultra-Dogmatischen zu befreien. Riechers’ Untersuchungen sind die einzigen im deutschen universitaren Kontext, die sich Bordiga derart explizit gewidmet haben.

1978 gibt Christian Riechers eine sprachlich leicht verbesserte und mit einem Nachwort von ihm versehene Neuauflage von Ignazio Silone Der Fascismus heraus (deutsche Erstveroffentlichung 1934). Auch dieses Projekt ist in dem Zusammenhang zu sehen, dass nicht Anti-Faschismus, sondern nur eine sozialistisch-klassenpolitische Strategie die faschistische Gefahr uberwinden kann.

Projekt Arbeiterbewegung

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Im universitaren Projekt Arbeiterbewegung ging es darum, die Geschichte der hannoverschen Arbeiterbewegung in allen Aspekten ? als Organisations-, Belegschafts-, Alltags- und Kulturgeschichte ? zu erforschen. Dabei ging es nie ausschließlich um Lokal- und Regionalgeschichte, die hannoversche Arbeiterbewegung sollte in einem ubergreifend (inter)nationalen Rahmen verortet werden. Die Arbeit fand selbstorganisiert statt: Studierenden und Dozenten arbeiteten gleichberechtigt ? wobei die Studierenden die Quellenforschungen selbststandig unternahmen, die Dozenten die Einzelprojekte durch Seminare und Vorlesungen unterstutzen.

Zwischen 1973 und 1993 personifizierte Riechers, der sich selbst nie als Leiter des Projektes verstanden hat, Kontinuitat und Klammer des Projektes. Aus der konkreten, lokalbezogenen Arbeit hat er sich weitgehend zuruckgezogen und sich auf die Garantie des institutionellen Rahmens und die Klarung theoretischer und allgemein sozialgeschichtlicher Voraussetzungen beschrankt. Christian Riechers betreute in diesem Zusammenhang zwischen 1972 und 1992 66 Examensarbeiten, das Projekt Arbeiterbewegung dokumentierte seine Arbeit in 17 Arbeitspapieren, die zwischen 1982 und 1993 erschienen sind [9] .

Weitere Projekte

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Christian Riechers hat zahlreiche Projekte angekundigt, sie aber nur mundlich, in seinen Seminaren, Vorlesungen und Vortragen, ausgefuhrt. In seinem Nachlass finden sich eine Fulle von Exzerpt- und Notizsammlungen, die auf Unabgeschlossenes verweisen. Zu den zwei großen Themenkomplexen, denen er sich vor allem in den 1980er Jahren gewidmet hat, zahlen groß angelegte Uberblicksvorlesungen zu Theorien und politischer Geschichte alter sozialer Bewegungen sowie Betriebs- und Belegschaftsgeschichte im 20. Jahrhundert.

  • Antonio Gramsci: Philosophie der Praxis. Eine Auswahl. herausgegeben und ubersetzt von Christian Riechers mit einem Vorwort von Wolfgang Abendroth , Frankfurt/M. 1967.
  • Antonio Gramsci. Marxismus in Italien. Frankfurt/M. 1970.
  • Ignazio Silone: Der Fascismus. Seine Entstehung und seine Entwicklung. Herausgegeben und mit einem Nachwort von Christian Riechers. Frankfurt/M. 1978.
  • Das ?Projekt Arbeiterbewegung in Hannover“ des Seminars fur Wissenschaft von der Politik. Ein Bericht uber studentisches Forschen im Projektstudium. Hannover 1983.
  • Michael Buckmiller u. a. (Hrsg.): Arbeiterbewegung und Betrieb. Beitrage zu einer anderen Geschichte Hannovers. Fur Christian Riechers (1936?1993). Hannover 1996.
  • Die Niederlage in der Niederlage. Texte zu Arbeiterbewegung, Klassenkampf, Faschismus. Reihe: Dissidenten der Arbeiterbewegung. Band 1, hrsg., eingeleitet und kommentiert von Felix Klopotek , Munster 2009, ISBN 978-3-89771-453-3 (Gesammelte Texte).
  1. Christian Riechers: Willy Huhn (1909?1970). Eine biographische Notiz. In: Willy Huhn: Der Etatismus der Sozialdemokratie. Zur Vorgeschichte des Nazifaschismus. Freiburg/Br. 203, S. 191ff.
  2. Klaus Bochmann: Zum Tode von Christian Riechers. In: Argument 201, 35. Jahrgang, Heft 5, September/Oktober 1993, S. 685.
  3. Christian Riechers: Antonio Gramsci. Marxismus in Italien. Frankfurt/M. 1970, S. 243.
  4. Christian Riechers: Causa Finita. Uberlegungen zu einer kritischen Gesamtausgabe der ? Gefangnishefte “ Antonio Gramscis. In: IWK . 28. Jahrgang 1992, Heft 1, S. 77?85.
  5. Gisela Bock: Rezension: Christian Riechers, Antonio Gramsci, Marxismus in Italien, Frankfurt 1970. In: Archiv fur Sozialgeschichte. 11. Jahrgang 1971, S. 557 ff
  6. Etwa: Gramscis ?unbegrenzt haltbare“ Intellektuellentheorie. In: Alternative. 23. Jahrgang, 1980, H. 130/131; Italienische Landarbeiterbewegungen gegen die Arbeitslosigkeit. Historisches zur proletarischen Selbstverwaltung des landlichen Arbeitsmarktes aus vorfaschistischen Zeiten. Unveroffentlichter Vortrag 1981; Antonio Gramsci: Ultramontan. Eine Revue organisch-intellektueller Patrologie (Sammelrezension neuer Gramsci-Literatur). In: IWK, 19. Jahrgang, 1983, Heft 4 S. 397?410.
  7. Christian Riechers: Antonio Gramsci. Marxismus in Italien. Frankfurt/M. 1970, S. 49.
  8. Brief von Amadeo Bordiga an Karl Korsch . Ubersetzt aus dem Italienischen und kommentiert von Christian Riechers. In: Jahrbuch Arbeiterbewegung. 1. 1973, Brief S. 243?247, Kommentar S. 248?263; Arbeiterbewegung und Faschismus: das Beispiel Italien. In: Jahrbuch Arbeiterbewegung. 4. 1976, S. 90?108; Die Ergebnisse der ?Revolution“ Stalins in Rußland: romantischer Sozialismus in der Ideologie, gesellschaftlicher Kolonialismus anstelle der klassenlosen Gesellschaft. Informationen uber die Entwicklung der Analyse der russischen Verhaltnisse bei Bordiga nach 1945. In: Jahrbuch Arbeiterbewegung. 5. 1977, S. 137?168; Arbeiterbewegung, Kultur und Antimilitarismus. Der Baseler Sozialistenkongreß, Clara Zetkin , sozialistische Frauen und Jugend: Erkundungen im Umfeld der Tasca-Bordiga-Debatte 1912. Unveroffentlichter Vortrag 1983.
  9. Angaben nach Buckmiller/Jacobs/Renners (Hg.): Arbeiterbewegung und Betrieb. Beitrage zu einer anderen Geschichte Hannovers. Fur Christian Riechers. S. 336ff.