Cecilia Mangini
(*
31. Juli
1927
in
Mola di Bari
;
[1]
†
21. Januar
2021
in
Rom
) war eine italienische
Dokumentarfilmerin
,
Drehbuchautorin
und
Fotografin
. Sie gilt als erste und bedeutendste italienische Dokumentarfilmregisseurin der Nachkriegszeit. Mangini arbeitete oft mit ihrem Mann
Lino Del Fra
, aber auch anderen italienischen Intellektuellen wie
Pier Paolo Pasolini
zusammen. Ihre Werke waren stets
sozialkritisch
und
kommunistisch
gepragt.
[2]
Manginis Mutter war
Florentinerin
, ihr Vater stammte aus
Apulien
und handelte mit Leder. Im Jahr 1933 ? Mangini war sechs Jahre alt ? verließ die Familie den von der Wirtschaftskrise hart getroffenen Suden Italiens und zog nach
Florenz
. Dort wurde die Jugendliche, wie viele ihrer Altersgenossen, zur gluhenden Anhangerin des
Faschismus
. Sie begann sich fur
bildende Kunst
und
Kino
zu interessieren und besuchte die ortlichen ?Cinegufs“: von faschistischen Universitatsgruppen organisierte Filmzirkel. Erst nach dem Krieg entdeckte sie den
Neorealismus
und den
Kommunismus
[2]
fur sich, wurde regelmaßige Besucherin der Filmclubs von Florenz
[3]
und grundete dort selbst den Filmclub ?Controcampo“ (auf Deutsch: ?
Gegenschuss
‘).
[4]
1952 zog sie nach Rom, wo sie fur die Organisation der italienischen Filmclubs arbeitete. Dort lernte sie ihren ebenfalls dort tatigen spateren Mann, den Dokumentarfilmer Lino Del Fra, kennen.
[5]
Ahnlich wie andere italienische Filmemacher und auch Del Fra, begann sie ihre Laufbahn als Filmkritikerin: Ab den fruhen 1950er-Jahren verfasste sie Rezensionen fur die linksgerichtete Filmzeitschrift
Cinema Nuovo;
[6]
[7]
außerdem schrieb sie fur
Cinema ’60
und
Eco del cinema.
[8]
Daneben verfasste sie aber auch Eintrage fur das Lexikon ?Enciclopedia Cinematografica Conoscere“.
[5]
Tief verwurzelt in der Welt des Films, begann Mangini u. a. bei Dreharbeiten zu fotografieren.
[5]
1952 reiste sie fur ihre erste Fotoreportage nach
Lipari
. Dort dokumentierte sie mit ihrer
Zeiss Super Ikonta 6×6
die beschwerlichen Arbeitsbedingungen und den Alltag von Arbeiterinnen und Arbeitern eines
Bimssteinbruchs
. Auf
Panarea
fotografierte sie die tagliche Arbeit einheimischer Kinder z. B. beim Fischen oder im Tourismus. Die Fotografien wirken wie Schnappschusse, sind jedoch sorgfaltig komponiert und lassen bereits Manginis Nahe zum
Neorealismus
erahnen. Sie wurden teilweise erst 2017 veroffentlicht.
[9]
Mangini arbeitete bis ungefahr 1958 als Fotografin. Ihre wichtigste Fotoreportage war allerdings ein Stuck uber die Lebensbedingungen in Vietnam wahrend des
Vietnamkriegs
, das erst 1965 im linksgerichteten
L’Espresso
und im feministischen Magazin
Noi donne
erschien.
[7]
Ursprunglich war sie mit Lino Del Fra fur ein Filmprojekt nach Vietnam gereist. Die beiden mussten das Land wegen der starker werdenden Kriegshandlungen jedoch bereits nach vier Monaten verlassen; der Film wurde nie realisiert.
Laut eigener Aussage beendete Mangini ihre Karriere als Fotografin, nachdem ihr Sohn Luca geboren worden war.
[10]
Mitte der funfziger Jahre nahm Mangini an einem von dem
Anthropologen
Ernesto de Martino geleiteten
ethnografischen
Filmprojekt teil.
[7]
Ende der funfziger Jahre brachte sie der Produzent
Fulvio Lucisano
auf die Idee, Dokumentarfilme zu drehen.
[11]
So begann sie in einer damals vorwiegend mannlich gepragten beruflichen Umgebung erste Kurzfilme zu realisieren. Sie dokumentierte das Leben von am Rande der Gesellschaft stehenden Menschen, die trostlosen Vorstadte und die letzten Reste von vorindustriellen Traditionen auf dem Land.
[11]
Bei einigen dieser Filme wirkte
Pier Paolo Pasolini
als Autor mit:
Ignoti alla citta
und
La Canta delle Marane
sind von seinem ersten Roman
Ragazzi di Vita
(1955) inspiriert und behandeln das Leben von Jugendlichen in der romischen Vorstadt.
[12]
In
Stendali
werden trauernde Frauen in Manginis Heimat Apulien gezeigt, die
Griko
sprechen, eine lokale Minderheitensprache mit griechischen Elementen. Mangini selbst bezeichnete die Zusammenarbeit mit dem umstrittenen Autor und den Arger mit der Zensur, den sie wegen einer Szene in
Ignoti
hatte, als Karrieresprungbrett.
[5]
Anfang der 1960er-Jahre drehten Mangini, Del Fra und der sozialistische Filmkritiker
Lino Micciche
zusammen den
Found-Footage-Film
All’armi siam fascisti!
(?Zu den Waffen, wir sind Faschisten!‘). Aus bestehendem Filmmaterial wurden historische Szenen aus der Zeit zwischen 1911 und 1961
[13]
montiert, mit denen das Phanomen des Faschismus ergrundet werden sollte. Diese Szenen wurden durch einen von
Franco Fortini
gesprochenen, oft sarkastischen Kommentar miteinander verbunden. Der Film hatte monatelang Schwierigkeiten mit der Zensur. Im Vorfeld hatte sich das
Istituto Luce
, Italiens großtes Archiv fur Dokumentarfilme, geweigert, Material zur Verfugung zu stellen. Die Filmemacher hatten deswegen mit nicht-italienischen Archiven zusammengearbeitet. Nachdem
All’armi siam fascisti!
bei den
Filmfestspielen von Venedig
uraufgefuhrt worden war,
[14]
wurde er von der Zensur wieder auf Eis gelegt und konnte erst nach einigem Hin und Her herausgebracht werden. Bei einer Vorstellung in Rom sturmten Neofaschisten das Kino. Nichtsdestotrotz wurde der Film zum Kassenschlager und die Kritik hob seinen historischen Wert hervor.
[7]
Nach diesem Erfolg versuchten Mangini, Del Fra und Fortini, sich mit dem Mythos
Stalin
in einem Film kritisch zu beschaftigen, der ebenfalls auf Archivmaterial basieren sollte. Mangini, die im Gegensatz zu Del Fra nicht Mitglied der sozialistischen Partei
[15]
war, konnte in die USA reisen und sammelte dort rares Filmmaterial z. B. aus der
Library of Congress
, aus den Archiven der
Fox
und
Paramount
und aus dem
Museum of Modern Art
. Da der Produzent, Lucisano, jedoch weitreichende Anderungen im Schnitt vornehmen ließ, um den Film an den US-amerikanischen Markt anzupassen, zogen die Filmemacher ihre Autorenschaft zuruck. Der von Lucisano schließlich unter dem Titel
Processo a Stalin
1963 veroffentlichte Film wurde ein Flop.
[7]
Mitte der 1960er-Jahre wurde Mangini von der
Rai
[11]
mit einer Recherche beauftragt, aus der schließlich der Dokumentarfilm
Essere Donne
entstand: Sie reiste ? unterstutzt durch die
Kommunistische Partei
? durch ganz Italien, um die Lebens- und Arbeitsbedingungen von Frauen zu zeigen. Dabei machte sie deren Diskriminierung und schlechtere Bezahlung sichtbar sowie ihre Schwierigkeiten damit, Familie und Beruf miteinander zu vereinbaren.
[5]
Sie arbeitete auch hier wieder mit Found Footage sowie mit
Collagen
.
[7]
Auch bei diesem Projekt bekam Mangini Probleme mit einer Behorde, wohl weil das vermittelte Frauenbild nicht genehm war: Der Film durfte deswegen nicht in den italienischen Kinos gezeigt werden. Er wurde im Inland nur an Versammlungsorten der Kommunistischen Partei vorgefuhrt, lief aber 1965 auf dem
Filmfestival in Krakau
und erhielt im selben Jahr auf dem
Leipziger Dokumentarfilmfestival
den Sonderpreis der Jury. 2019 wurde er von der Cineteca Bologna restauriert.
[16]
1977 gewann der Spielfilm
Antonio Gramsci ? Die Jahre im Kerker
, bei dem Lino Del Fra Regie fuhrte und Mangini als Co-Autorin mitwirkte, den
Goldenen Leoparden
beim
Filmfestival in Locarno
. Tatsachlich sind
Gramsci
und seine Schriften fur Mangini und ihr Filmverstandnis wichtig. Sie selbst gab in einem Interview an, dass Gramscis Werk die ideologische Basis fur ihre Filme darstellte.
[7]
1982 drehte Mangini zusammen mit ihrem Mann und wieder im Auftrag der Rai
Comizi d’amore ’80
: Eine Bestandsaufnahme der Sexualitat der italienischen Bevolkerung, 20 Jahre nach Pasolinis Dokumentation
Gastmahl der Liebe
(Originaltitel:
Comizi d’amore
). Da die Produktion und Finanzierung von Dokumentarfilmen in Italien immer schwieriger wurde,
[3]
legte sie anschließend eine lange filmische Schaffenspause ein.
[17]
Diese Pause beendete die nunmehr 82-jahrige Mangini erst 2009 durch die Zusammenarbeit mit der jungen Filmemacherin Mariangela Barbanente: In
In viaggio con Cecilia
reisten die beiden durch ihre gemeinsame Heimat Apulien und dokumentierten die Veranderung des Landstrichs im Zuge der Industrialisierung seit der Nachkriegszeit.
[18]
Im selben Jahr wurde eine Retrospektive von Manginis Filmen auf dem NododocFest in
Triest
gezeigt.
[19]
2011 kam es zu einem Treffen mit
Agnes Varda
. Der aus der Begegnung resultierende Kurzfilm
Dialogo tra Cecilia e Agnes
war im selben Jahr bei der Festa di Cinema del Reale in
Corigliano d’Otranto
zu sehen.
[20]
Ein paar Jahre spater arbeitete Mangini wieder im Tandem mit einem jungen Filmemacher: Zusammen mit Paolo Pisanelli realisierte sie die Dokumentarfilme
Le Vietnam sera libre
(2018)
[21]
und
Due scatole dimenticate ? un viaggio in Vietnam
(2020). Darin werden Manginis und Lino Del Fras Reise nach Vietnam in den 1960er-Jahren, Manginis Fotografien, die dort entstanden, und das nie verwirklichte Filmprojekt behandelt.
Seit 2019 arbeitete Mangini, wieder zusammen mit Paolo Pisanelli, an einer Dokumentation uber die einzige Italienerin, die jemals den
Literatur-Nobelpreis
gewann,
Grazia Deledda
.
[22]
Cecilia Mangini starb im Januar 2021 im Alter von 93 Jahren in Rom.
[23]
Im Filmarchiv der italienischen Arbeiterbewegung wurde eine nicht-religiose Gedenkfeier fur sie ausgerichtet.
[24]
Mit ihrem Mann war Mangini bis zu seinem Tod 1997 in einer symbiotischen Arbeitsbeziehung verbunden. Es ist teilweise schwer festzustellen, wo das Werk der einen aufhort und das des anderen beginnt.
[11]
Manginis Sohn Luca Del Fra beschreibt das gemeinsame Zuhause als Werkstatt, in der Drehbucher viele Male gemeinsam umgeschrieben wurden und uber scheinbare Kleinigkeiten lange diskutiert wurde.
[5]
- Ignoti alla citta
(1958), Kurzfilm
- Maria e i giorni
(1959)
- Firenze di Pratolini
(1959)
[25]
- La canta delle Marane
(1960), Kurzfilm
- Stendali ? Suonano ancora
(1960), Kurzfilm
- La passione del grano
(1960), zusammen mit Lino del Fra
- Fata Morgana
(1961), zusammen mit Lino del Fra
- All’armi, siam fascisti!
(1962), zusammen mit Lino Del Fra und Lino Micciche
- La statua di Stalin
(1963), dokumentarischer Kurzfilm, zusammen mit Lino Del Fra
- Divino Amore
(1963)
- Trieste del mio cuore
(1964)
- Pugili a Brugherio
(1965)
- Tommaso
(1965)
- Felice Natale
(1965)
- Essere donne
(1965)
- Brindisi ’66
(1966)
- Domani vincero
(1969)
- La briglia sul collo
(1974)
- In viaggio con Cecilia,
zusammen mit Mariangela Barbanente (2013)
- Le Vietnam sera libre,
zusammen mit Paolo Pisanelli (2018)
- Due scatole dimenticate ? un viaggio in Vietnam,
zusammen mit Paolo Pisanelli (2020)
[26]
- Stendali ? Suonano ancora
(1960)
- All’armi, siam fascisti!
(1962)
- La statua di Stalin
(1963)
- La torta in cielo,
Regie: Lino Del Fra (1970)
- La villeggiatura,
Regie:
Marco Leto
(1973)
- Antonio Gramsci ? Die Jahre im Kerker,
Regie: Lino Del Fra (1977)
- Klon,
Regie: Lino Del Fra (1994)
- Regina Coeli,
Regie:
Nico D’Alessandria
(2000)
- In viaggio con Cecilia
(2013)
2009 wurde Mangini fur ihre langjahrigen Verdienste als Filmemacherin der Solinas-Preis und die Medaille des Prasidenten der Republik Italien verliehen.
[19]
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