Bildungsroman

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Ein Bildungsroman thematisiert die Entwicklung einer meist jungen Hauptfigur. Die Gattung entstand Ende des 18. Jahrhunderts in Deutschland .

Der Begriff stammt aus Vortragen des Dorpater Philologen Karl Morgenstern , der im Bildungsroman die ?das Wesen des Romans im Gegensatz des Epos am tiefsten erfassende[] besonder[e] Art desselben“ [1] sah. Der deutsche Begriff wird auch in vielen anderen Sprachen, etwa dem Englischen und dem Franzosischen, verwendet. Es handelt sich um ein Subgenre des Entwicklungsromans . Der Bildungsroman weist oft eine Nahe zum Coming-of-Age-Roman auf.

Wesentliche Merkmale

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In einem Bildungsroman geht es um die ?Auseinandersetzung einer zentralen Figur mit verschiedenen Weltbereichen“. Somit nimmt der Bildungsroman formal gesehen eine ?Zwischenstellung zwischen Figuren- und Raumroman “ ein. [2] Die zentrale Figur, der Held , durchlebt eine Entwicklung, die von seinem Verhaltnis zu den ?verschiedenen Weltbereichen“, also seiner Umwelt , bestimmt wird. [3] Diese Entwicklung spielt sich meistens in der Jugend des Helden ab. Die erzahlte Zeit erstreckt sich uber mehrere Jahre, oft sogar Jahrzehnte. Somit weist der Bildungsroman Elemente einer Biografie auf. [4]

Der Aufbau des Bildungsromans ist haufig dreigeteilt und folgt dem Schema ?Jugendjahre ? Wanderjahre ? Meisterjahre“. Beispielhaft lasst sich dies an Goethes Wilhelm Meisters Lehrjahre nachvollziehen ?, dieser Roman gilt als Ideal und Prototyp des deutschen Bildungsromans. [5] Jedoch weisen nicht alle Bildungsromane diese Dreiteilung auf. [6]

Bezug auf den Bildungsbegriff der Aufklarung

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Eine zentrale Rolle bei der Entwicklung spielt ? im Unterschied zum reinen Entwicklungsroman ? beim Bildungsroman ein bestimmter Bildungsbegriff. Aus der Antike abgeleitet, ist mit dem Begriff Bildung seit der Aufklarung und dem Sturm und Drang die von staatlichen und gesellschaftlichen Normen freie individuelle Entwicklung des Einzelnen zu einem hoheren, positiven Ziel gemeint. Der Begriff beinhaltet sowohl die Bildung des Verstandes als auch die Bildung des Nationalcharakters. Ein weiteres Kennzeichen des historischen Bildungsbegriffs ist die ?Anbildung“ außerer Einflusse ebenso wie die Entwicklung und Entfaltung vorhandener Anlagen. [7] Jeder Bildungsroman bezieht sich auf diesen namensgebenden Begriff. [3]

Bildungsverhaltnis zwischen Autor, Hauptfigur und Leser

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Bildung soll beim Bildungsroman nicht nur das Thema des Romans sein, sondern auch dem Leser vermittelt werden. [8] Ahnlich wie im didaktischen Aufklarungsroman geschieht dies durch das ?missionarische Uberlegenheitsgefuhl eines sich selbst bewussten Erzahlers , der seinen Bildungsvorsprung gegenuber Held und Leser geltend machen [kann]“. [9] Dieser distanzierte, oft ironische Erzahler [10] ist also neben dem Helden und dem Leser die wesentliche Figur eines Bildungsverhaltnisses, das als Bildungsgeschichte bezeichnet wird. [4]

Der Held eines Bildungsromans ist zunachst seiner Umwelt direkt entgegengesetzt. Wahrend er noch jung, naiv und voller Ideale ist, steht ihm eine ablehnende, realistische Welt entgegen, in der nur Weniges nach seinen Vorstellungen ablauft. Jacobs spricht von einem ?Bruch zwischen idealerfullter Seele und widerstandiger Realitat“. [2] Die Folgen sind Unverstandnis und Ablehnung auf beiden Seiten. [11]

Dieses Verhaltnis des Helden zu seiner Umwelt setzt nun seine Entwicklung, seine Bildung, in Gang. Der Held macht in seiner Umwelt konkrete Erfahrungen, die ihn allmahlich wachsen und reifen lassen. Es wird dargestellt, ?wie er in glucklicher Dammerung in das Leben eintritt, nach verwandten Seelen sucht, der Freundschaft begegnet und der Liebe, wie er nun aber mit den harten Realitaten der Welt in Kampf gerat und so unter mannigfachen Lebenserfahrungen heranreift“. [12]

Diese Entwicklung endet in einem ?harmonischen Zustand des Ausgleichs“ mit der Umwelt. [3] Der ?Wandlungsprozeß des Helden [hat ihn] … zur Klarheit uber sich selbst und uber die Welt [ge]fuhrt“, der Held hat sich also mit der Welt versohnt und nimmt in ihr seinen Platz ein. [2] So ergreift er zum Beispiel einen Beruf ?und wird Philister , so gut wie die anderen auch“ und damit ein Teil der Welt, die er vorher so verachtet hat. [11]

Als weiteres Merkmal des Bildungsromans sind an wichtigen Stellen, an den ?Angelpunkten der Entwicklung“ Ruckblicke und Reflexionen des Helden eingeschoben. Diese sollen den Roman einerseits formal gliedern, andererseits dienen sie zur Verdeutlichung der Entwicklung: Sie trennen die einzelnen Stufen dieser Entwicklung voneinander und schließen sie jeweils ab. [2]

Als (von Vorlaufern und mit anderer Intention so benannten literarischen Formen [13] abgesehen) erster Bildungsroman gilt Christoph Martin Wielands um 1766 entstandene Geschichte des Agathon . Als Prototyp der Gattung setzte sich dann Goethes Wilhelm Meisters Lehrjahre durch, obwohl hier der Held nach einem adligen Bildungsideal, der gleichmaßigen Ausbildung von Korper und Geist, strebt und seine burgerliche Herkunft verleugnet. [14]

Der grune Heinrich von Gottfried Keller gilt neben Goethes Wilhelm Meister und Stifters Nachsommer als einer der bedeutendsten deutschen Bildungsromane des 19. Jahrhunderts. Keller erarbeitete zwei Fassungen (1855 bzw. 1880 erschienen), wobei die zweite, heute gelaufigere Fassung im Unterschied zur ersten ausschließlich in der Ich-Form gehalten ist.

Demian (1919) ist ein bekannter Bildungsroman mit autobiographischen Elementen von Hermann Hesse . Die Erzahlung hatte ? so berichtet Thomas Mann in seinem Vorwort zur amerikanischen Ausgabe des Buches ? auf die junge Generation nach dem Ersten Weltkrieg eine ?elektrisierende Wirkung und traf mit unheimlicher Genauigkeit den Nerv der Zeit“, ahnlich Goethes Werther , dessen Wirkung Thomas Mann mit der des Demian vergleicht. [15]

Thomas Mann lasst in der Labor-Atmosphare eines Lungen-Sanatoriums auf dem Davoser Zauberberg (1924) die abendlandische Kulturgeschichte vor den Augen seines jungen Helden Hans Castorp Revue passieren, bevor dieser sich der Perversion aller Bildung hingibt und in den Ersten Weltkrieg zieht. In Bekenntnisse des Hochstaplers Felix Krull (1922/1954) wird der Bildungsroman mit dem Schelmenroman verknupft und ist somit als eine Parodie auf den Bildungsroman zu verstehen.

Negativer oder umgekehrter Bildungsroman

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Karl Philipp Moritz verfasste zwischen 1785 und 1790 mit dem autobiografischen Anton Reiser das Beispiel fur einen misslungenen Bildungsgang und damit ein Werk, das in der Literaturwissenschaft als ?negativer Bildungsroman“ bezeichnet wird. Auch die Bezeichnung ?umgekehrter Bildungsroman“ ist nicht unublich, wenn es sich bei der Entwicklung der Hauptfigur nicht um eine Erfolgsgeschichte, sondern eine Form des Niederganges handelt. [16]

Auch der von Heinrich Mann 1914 verfasste Roman Der Untertan kann als umgekehrter beziehungsweise satirischer Bildungsroman verstanden werden, da er die klassische Form des Genres persifliert. Die Hauptperson ist hier der Prototyp eines uberangepassten Spießburgers , der es im Deutschen Reich weit bringt. Sein schwacher Charakter und seine Angstlichkeit fuhren dazu, dass er sich als Opportunist voll und ganz den wilhelminischen Autoritaten unterwirft und dafur belohnt wird. [16] [17]

Bei spateren Bildungsromanen zeigt sich, dass von literarisch hoherer Qualitat oft die sind, in denen der Held entweder scheitert, etwa in Gottfried Kellers Der grune Heinrich , oder in denen das Ziel der Bildung fragwurdig geworden ist, wie beispielsweise in Adalbert Stifters Der Nachsommer . Zu der Gattung der negativen Bildungsromane gehort auch der parodistische Bildungsroman Heine Steenhagen woll ju dat wiesen! Die Geschichte eines Ehrgeizigen (1925) von Friedrich Ernst Peters , der Keller oder andere Klassiker wie Wilhelm Raabes Stopfkuchen zitiert und als zweisprachiges plattdeutsch-hochdeutsches Werk ein Novum in der Geschichte der Gattung ist. [18]

Ein moderner Bildungsroman, der sich direkt auf die Tradition der Gattung bezieht, ist Der kurze Brief zum langen Abschied von Peter Handke , der 1972 erschien. Auch der 1995 veroffentlichte Roman Faserland von Christian Kracht sowie in gewisser Weise auch Elementarteilchen von Michel Houellebecq aus dem Jahr 1998 konnen als Bildungsroman verstanden werden.

Hannes Anderer schrieb 2006 mit leichten autobiografischen Anklangen uber seine Kindheit und Jugend in Ostbelgien von 1934 bis 1954. Im Kern handelt es sich dabei um eine Auseinandersetzung mit dem dort herrschenden Katholizismus und den Abschied von ebendiesem in Form einer radikalen Wende in Bezug auf die Berufsplane des Heranwachsenden. Wie bei Mann wird dabei im 2. Buch die Kulturgeschichte des Abendlandes in wesentlichen Teilen wiedergegeben.

  • Elisabeth Bohm, Katrin Dennerlein (Hrsg.): Der Bildungsroman im literarischen Feld. Neue Perspektiven auf eine Gattung. De Gruyter, Berlin?Boston 2016, ISBN 978-3-11-061105-2 .
  • Hans Heinrich Borcherdt : Bildungsroman . In: Paul Merker, Wolfgang Stammler (Hrsg.): Reallexikon der deutschen Literaturgeschichte . 2. Auflage. Band   1 . De Gruyter, Berlin 1958, S.   175?178 .
  • Georg Wilhelm Friedrich Hegel : Asthetik . Mit einem einfuhrenden Essay von Georg Lukacs. Hrsg.: Friedrich Bassenge . Aufbau-Verlag, Berlin 1955.
  • Jurgen Jacobs : Wilhelm Meister und seine Bruder. Untersuchungen zum deutschen Bildungsroman . Zweite unveranderte Auflage. Wilhelm Fink Verlag, Munchen 1983, ISBN 978-3-7705-0879-2 .
  • Karl Morgenstern : Der Bildungsroman. Die beiden grundlegenden Vortrage uber einen global gebrauchlichen Begriff . Mit Nachwort und Bibliographie. Hrsg.: Dirk Sangmeister. Lumpeter & Lasel, Eutin 2020, ISBN 978-3-946298-20-5 .
  • Rolf Selbmann: Der deutsche Bildungsroman . Metzler, Stuttgart 1984, ISBN 978-3-476-10214-0 .
  • Joseph Campbell : Der Heros in tausend Gestalten . Mit zahlreichen Abbildungen (=  Insel-Taschenbuch . Band   2556 ). Insel, Frankfurt am Main 2011, ISBN 978-3-458-34256-4 (englisch: The hero with a thousand faces . 1953. Ubersetzt von Karl Koehne).
  • Franco Moretti : The way of the world. The ?Bildungsroman“ in European Culture . Verso, London 1987 (englisch).
Wiktionary: Bildungsroman  ? Bedeutungserklarungen, Wortherkunft, Synonyme, Ubersetzungen

Einzelnachweise

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  1. Karl Morgenstern: Ueber das Wesen des Bildungsromans . In: Inlandisches Museum . Band   1 , Nr.   2 . Dorpat 1820, S.   61 ( google.at [abgerufen am 20. Januar 2022] Fortgesetzt in Heft 3 des ersten Bandes des Inlandischen Museums, S. 13?27).
  2. a b c d Jurgen Jacobs: Wilhelm Meister und seine Bruder. Untersuchungen zum deutschen Bildungsroman . Zweite unveranderte Auflage. Wilhelm Fink Verlag, Munchen 1983, ISBN 978-3-7705-0879-2 , S.   271 .
  3. a b c Jurgen Jacobs: Wilhelm Meister und seine Bruder. Untersuchungen zum deutschen Bildungsroman . Zweite unveranderte Auflage. Wilhelm Fink Verlag, Munchen 1983, ISBN 978-3-7705-0879-2 , S.   14 .
  4. a b Rolf Selbmann: Der deutsche Bildungsroman . Metzler, Stuttgart 1984, ISBN 978-3-476-10214-0 , S.   39   f .
  5. Hans Heinrich Borcherdt: Bildungsroman . In: Paul Merker, Wolfgang Stammler (Hrsg.): Reallexikon der deutschen Literaturgeschichte . 2. Auflage. Band   1 . De Gruyter, Berlin 1958, S.   177 .
  6. Rolf Selbmann: Der deutsche Bildungsroman . Metzler, Stuttgart 1984, ISBN 978-3-476-10214-0 , S.   23 .
  7. Rolf Selbmann: Der deutsche Bildungsroman . Metzler, Stuttgart 1984, ISBN 978-3-476-10214-0 , S.   2 .
  8. Rolf Selbmann: Der deutsche Bildungsroman . Metzler, Stuttgart 1984, ISBN 978-3-476-10214-0 , S.   37 .
  9. Rolf Selbmann: Der deutsche Bildungsroman . Metzler, Stuttgart 1984, ISBN 978-3-476-10214-0 , S.   40 .
  10. Rolf Selbmann: Der deutsche Bildungsroman . Metzler, Stuttgart 1984, ISBN 978-3-476-10214-0 , S.   27 .
  11. a b Georg Wilhelm Friedrich Hegel: Asthetik . Mit einem einfuhrenden Essay von Georg Lukacs. Hrsg.: Friedrich Bassenge. Aufbau-Verlag, Berlin 1955, S.   557   f .
  12. Wilhelm Dilthey : Das Erlebnis und die Dichtung. Lessing, Goethe, Novalis, Holderlin. Vier Aufsatze. Leipzig 1906, S. 327?329
  13. Vgl. Werner Hoffmann : Der mittelhochdeutsche ?Bildungsroman“. Uberlegungen zu seinen Voraussetzungen, Moglichkeiten und Grenzen. In: Mannheimer Berichte. Band 24, 1984, S. 1?14.
  14. Walther Killy: Literaturlexikon. Band 13, S. 119.
  15. Praambel von Suhrkamp Taschenbuch 3369 1. Aufl. 2002
  16. a b Der umgekehrte Bildungsroman Lekturehilfe.de, abgerufen am 5. Marz 2024
  17. Heinrich Mann. Der Untertan. Roman Suhrkamp Verlag , abgerufen am 5. Marz 2024
  18. Volltext Heine Steenhagen woll ju dat wiesen! Die Geschichte eines Ehrgeizigen