Benutzer : The95z

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Die Legende von der Entstehung des Buches Taoteking auf dem Weg des Laotse in die Emigration ist ein Gedicht von Bertolt Brecht . Es ist Bestandteil der Sammlung Svendborger Gedichte .

Das Gedicht gilt als ?eines der beruhmtesten Gedichte“ ( Jan Knopf [1] ) Brechts und ist ein wichtiges Werk der deutschen Exilliteratur . Es beschreibt eine legendenhafte Episode aus dem Leben des altchinesischen Philosophen Laozi (altere Umschrift: Laotse). Die Legende spiegelt die langjahrige ? beginnend ca. 1920 ? und pragende Beschaftigung Brechts mit taoistischem Gedankengut wider, das er insbesondere in Form von Richard Wilhelms Ubersetzung des Taotekings (heute: Daodejing ) kennengelernt hatte. Daruber hinaus hat sich Brecht in gewissen Zugen Laotses selbst portratiert, insbesondere in seiner Rolle als Emigrant zwischen Ohnmacht und Hoffnung auf den Sieg der guten Sache. [2]

Das Gedicht wurde 1949 von Gunter Kochan , einem Eisler-Schuler, vertont.

Als er siebzig war und gebrechlich
drangte es den Lehrer doch nach Ruh
Denn die Gute war im Lande wieder einmal schwachlich
und die Bosheit nahm an Kraften wieder einmal zu.
Und er gurtete den Schuh.
Und er packte ein, was er so brauchte:
Wenig. Doch es wurde dies und das.
So die Pfeife, die er immer abends rauchte
und das Buchlein, das er immer las.
Weissbrot nach dem Augenmass.
Freute sich des Tals noch einmal und vergass es
als er ins Gebirg den Weg einschlug.
Und sein Ochse freute sich des frischen Grases
kauend, wahrend er den Alten trug.
Denn dem ging es schnell genug.
Doch am vierten Tag im Felsgesteine
hat ein Zollner ihm den Weg verwehrt:
≪Kostbarkeiten zu verzollen?≫ - ≪Keine.≫
Und der Knabe, der den Ochsen fuhrte, sprach: ≪Er hat gelehrt.≫
Und so war auch das erklart.
Doch der Mann in einer heitren Regung
Fragte noch: ≪Hat er was rausgekriegt?≫
Sprach der Knabe: ≪Dass das weiche Wasser in Bewegung
Mit der Zeit den machtigen Stein besiegt.
Du verstehst, das Harte unterliegt.≫
Dass er nicht das letzte Tageslicht verlore
Trieb der Knabe nun den Ochsen an
Und die drei verschwanden schon um eine schwarze Fohre
Da kam plotzlich Fahrt in unsern Mann
Und er schrie: ≪He, du! Halt an!
Was ist das mit diesem Wasser, Alter?≫
Hielt der Alte: "Interessiert es dich?"
Sprach der Mann: ≪Ich bin nur Zollverwalter,
Doch wer wen besiegt, das interessiert auch mich.
Wenn du's weisst, dann sprich!
Schreib mir's auf! Diktier es diesem Kinde!
So was nimmt man doch nicht mit sich fort.
Da gibt's doch Papier bei uns und Tinte
Und ein Nachtmahl gibt es auch: ich wohne dort.
Nun, ist das ein Wort?≫
Uber seine Schulter sah der Alte
auf den Mann: Flickjoppe. Keine Schuh.
Und die Stirne eine einzige Falte.
Ach, kein Sieger trat da auf ihn zu.
Und er murmelte: ≪Auch du?≫
Eine hofliche Bitte abzuschlagen
war der Alte, wie es schien, zu alt.
Denn er sagte laut: ≪Die etwas fragen
die verdienen Antwort.≫ Sprach der Knabe: ≪Es wird auch schon kalt.≫
≪Gut, ein kleiner Aufenthalt.≫
Und von seinem Ochsen stieg der Weise
Sieben Tage schrieben sie zu zweit.
Und der Zollner brachte Essen (und er fluchte nur noch leise
mit den Schmugglern in der ganzen Zeit).
Und dann war's soweit.
Und dem Zollner handigte der Knabe
eines Morgens einundachzig Spruche ein.
Und mit Dank fur eine Reisegabe
bogen sie um jene Fohre ins Gestein.
Sagt jetzt: kann man hoflicher sein?
Aber ruhmen wir nicht nur den Weisen,
dessen Name auf dem Buche prangt!
Denn man muss dem Weisen seine Weisheit erst entreissen.
Darum sei der Zollner auch bedankt:
Er hat sie ihm abverlangt.
Laozi

Die Legende von der Entstehung des Buches Taoteking auf dem Weg des Laotse in die Emigration entstand 1938 in Danemark wahrend Brechts Emigration. Das Gedicht wurde erstmals 1939 in Moskau in der Zeitschrift Internationale Literatur (Heft 1, S. 33 f.) veroffentlicht, nachdem die Exilzeitschrift Maß und Wert eine Veroffentlichung abgelehnt hatte. Die im Gedicht geschilderte Anekdote war schon Gegenstand eines kurzen Prosastucks Brechts gewesen ( Die hoflichen Chinesen ), das 1925 im Berliner Borsen-Courier erschienen war. Der Autor nahm das Gedicht 1949 auch in seine Kalendergeschichten auf; hier ist Die unwurdige Greisin die komplementare Erzahlung. [3]

Das Gedicht erzahlt, wie der Weise Laotse im hohen Alter seine Heimat verlasst, weil er mit den Zustanden dort nicht einverstanden ist.

?Als er Siebzig war und war gebrechlich
Drangte es den Lehrer doch nach Ruh
Denn die Gute war im Lande wieder einmal schwachlich
Und die Bosheit nahm an Kraften wieder einmal zu.
Und er gurtete den Schuh.“

Er packt seine wenige Habe zusammen und auf einem Ochsen reitend, der von einem Jungen gefuhrt wird, verlasst er das Land.

Am vierten Tag wird er von einem Zollner aufgehalten, der ihn zunachst fragt, ob er etwas zu verzollen habe. Laotse aber ist arm, was der Junge erklaren kann: ?Er hat gelehrt.“ Auf die Frage, was er denn ?rausgekriegt“ habe, antwortet der Junge:

?Daß das weiche Wasser in Bewegung
Mit der Zeit den machtigen Stein besiegt.
Du verstehst, das Harte unterliegt.“

Wer wen besiegt, weckt die Neugier des Zollners, und er bittet den Weisen, seine Lehren niederzuschreiben. Innerhalb von sieben Tagen, in denen der Zollner Laotse und dem Knaben Unterschlupf und Verpflegung gewahrt, schreiben sie 81 Spruche nieder, welche der Knabe dem Zollner uberreicht. Auf diese Weise entsteht das Buch Daodejing , quasi als Zoll. Am Ende steht neben dem Lobpreis des Weisen ein Dank des Sprechers an den Zollner:

?Darum sei der Zollner auch bedankt:
Er hat sie [die Weisheit] ihm abverlangt.“

Schon im Prosastuck Die hoflichen Chinesen von 1925 findet sich das Hauptthema des Gedichts beschrieben:

?Laotse hatte von Jugend auf die Chinesen in der Kunst zu leben unterrichtet und verließ als Greis das Land, weil die immer starker werdende Unvernunft der Leute dem Weisen das Leben erschwerte. [...] Da trat ihm an der Grenze des Landes ein Zollwachter entgegen und bat ihn, seine Lehren fur ihn, den Zollwachter, aufzuschreiben, und Laotse, aus Furcht unhoflich zu erscheinen, willfahrte ihm. Er schrieb die Erfahrungen seines Lebens in einem dunnen Buche fur den hoflichen Zollwachter auf und verließ erst, als es geschrieben war, das Land seiner Geburt.“ [4]

Die Strophen der Legende bestehen aus funf Versen, von denen in der Regel die ersten vier funfhebige und der Schlussvers vierhebige Trochaen aufweisen. Die Trochaen geben dem Gedicht ? analog zum ?weichen Wasser in Bewegung“ ? eine fließende Anmutung. Von diesem Schema weicht Brecht an einzelnen charakteristischen Stellen ab. So etwa in der funften Strophe, in der sich der fließende Trochaus gleichsam am harten Daktylus des mach-ti-gen Steins bricht. [5] Das Gedicht entwickelt seinen speziellen Reiz auch durch das verwendete Reimschema [ababb] , das einen Rhythmus aufbaut und dann durchbricht. Der jeweils zweite und vierte Vers weisen eine mannliche Kadenz auf.

Dass solche formalen Schemata, inklusive der Abweichungen, von Brecht bewusst und sorgfaltig eingesetzt wurden, belegen die Notizen aus seinem Nachlass. [6] Zu den Abweichungen zahlen die und -Struktur vieler Zeilen und Ubergange. Das und ist die einfachste Form der Verknupfung, es hat gleichzeitig kindliche und volksmaßige Zuge. Diese gewollte Niedrigkeit in Wortgebrauch ist durchsetzt mit relativ steifer Ausdrucksweise: ?gurtete den Schuh“, ?das letzte Tageslicht verlore”, ?Nachtmahl“. Die Kunst der nahezu schnoddrigen Alltagsrede kann dabei fast nicht ubersehen werden. Sie zeigt sich besonders in der Handhabung der Strophik, die kurzen, nachklingenden, hinzugereimten funften Zeilen sind oft von verbluffender Wirkung.

Interpretationen

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Der Weisheitsbegriff

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Wahrend in den ersten zehn Strophen ausschließlich die Rede von einem Lehrer bzw. weitaus ofter noch von einem Alten ist, andert sich dies schlagartig mit Laotses Entscheidung anzuhalten und sein Wissen aufzuschreiben. Von dieser Entscheidung an ( Und von seinem Ochsen stieg der Weise ) ist nur noch von einem Weisen die Rede. Fur Brecht ist Weisheit somit durch zwei Dinge gepragt: Wissen und die Bereitschaft, Wissen zu vermitteln. Die Weisheit muss jedoch auch abverlangt werden; ohne Frage kommt keine Antwort, was Brecht auch Laotse sagen lasst: "Die etwas fragen, die verdienen Antwort."

Der Ochsensymbolismus

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Brecht fuhrte wahrend seiner ganzen Exilzeit ein chinesisches Rollbild mit sich, das den Philosophen Laozi auf einem Ochsen in die Emigration reitend darstellt. Dieses Bild wird auch in der dritten Strophe dieses Gedichts angedeutet: ?Und sein Ochse...“. In der fur die chinesische Kunst ublichen symbolischen Deutung des Bildes steht der Ochse fur den triebhaften und instinktiven Teil der menschlichen Natur, der zur sinnvollen Entfaltung seiner großen Kraft die geduldige und kluge Lenkung durch Intellekt und Weisheit des Reiters benotigt.

Die Freundlichkeit

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In einem Kommentar nimmt Walter Benjamin 1939 das Gedicht zum Anlass, die besondere Rolle der Freundlichkeit hervorzuheben, der Brecht eine große Bedeutung beigemessen habe. Er fuhrt aus, dass nur durch Freundlichkeit dem Weisen uberhaupt seine Weisheit entrissen worden sei. Daraus, dass nicht der Weise, sondern der Knabe die Spruche ubergibt, werde deutlich, dass Freundlichkeit nicht den Abstand zwischen den Menschen aufhebe, und es gelte: ?…die Freundlichkeit besteht nicht darin, Kleines nebenher zu leisten, sondern Großtes so zu leisten, als wenn es ein Kleinstes ware“. Folgerichtig werden die Verse der Strophe 5 (?…Mit der Zeit den machtigen Stein besiegt. Du verstehst, das Harte unterliegt“) dahingehend interpretiert: ?Wer das Harte zum Unterliegen bringen will, der soll keine Gelegenheit zum Freundlichsein vorbeigehen lassen“. [7]

Den Herrschern werden Milde, Nachgiebigkeit und Hingebung empfohlen, obwohl diese Tugenden als Weichheit und Schwache angesehen werden. In diesem Gedicht wird nun gezeigt, dass man sich damit auch durchzusetzen vermag. Dies bezieht sich auf das Abspulen von Gebirgen, das Zerwaschen von Felsen, Zerschwemmen von Gebauden, Auflosen von Erz und Eisen durch Oxydation usw. `Steter Tropfen hohlt den Stein´, nichts anderes kann an die Stelle des Wassers treten, was Brecht vom 78. Abschnitt des Tao Te Kings ubernommen hat.

Hannah Arendt berichtet in Menschen in finsteren Zeiten von der Wirkung, die das Gedicht auf die Exildeutschen in franzosischer Gefangenschaft wahrend des Zweiten Weltkrieges machte: Wie ein Lauffeuer verbreitete sich das Gedicht in den Lagern, wurde von Mund zu Mund gereicht wie eine frohe Botschaft, die, weiß Gott, nirgends dringender benotigt wurde als auf diesen Strohsacken der Hoffnungslosigkeit. [8]

Irmagard Horlbeck-Kappler, eine bekannte DDR-Buchgestalterin und Malerin, zeichnete 1975 eine Grafik zur Legende, die fur die Reclam-Ausgaben zwischen 1979 und 1985 als Coverbild diente [9]

Richard Wilhelms Fassung des Tao Te King

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Es sind grundlegend unterschiedliche Ubersetzungen des Tao Te Kings vorhanden. In der Ubersetzung des Tao Te King von Richard Wilhelms, die Brecht nutzte, finden sich an mehreren Stellen Verweise auf das ?Weiche“ und ?Harte“, und zwar in den Abschnitten 37, 43, 76 und 78. Der letzte Abschnitt ist der einzige, in der wie bei Brecht die Thematik ?Wasser“ aufgegriffen wird:

?Auf der ganzen Welt
gibt es nichts Weicheres und Schwacheres als das Wasser.
Und doch in der Art, wie es dem Harten zusetzt,
kommt nichts ihm gleich.
Es kann durch nichts verandert werden.
Daß Schwaches das Starke besiegt
und Weiches das Harte besiegt,
weiß jedermann auf Erden,
aber niemand vermag danach zu handeln.“

Ebenfalls findet sich im Vorwort von Richard Wilhelms die Geschichte mit dem Grenzbeamten wieder:

?Als die offentlichen Zustande sich so verschlimmerten, daß keine Aussicht auf die Herstellung der Ordnung mehr vorhanden war, soll Laotse sich zuruckgezogen haben. Als er an den Grenzpaß Han Gu gekommen sei, nach spaterer Tradition auf einem schwarzen Ochsen reitend, habe ihn der Grenzbeamte Yin Hi gebeten, ihm etwas Schriftliches zu hinterlassen. Darauf habe er den Tao Te King, bestehend aus mehr als 5000 chinesischen Zeichen, niedergeschrieben und ihm ubergeben. Dann sei er nach Westen gegangen, kein Mensch weiß wohin.“
  • Karl Moritz: Deutsche Balladen. Analysen fur den Deutschunterricht . Ferdinand Schoningh Verlag, Paderborn 1972, ISBN 978-3-506-72814-2 .
  • V. v. Strauss: Lao Tse - Das Tao Te King . Verlag von Friedrich Fleischer, Leipzig 1870

Einzelnachweise

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  1. Kindlers Neues Literatur-Lexikon, Munchen 1989, Band 3, S. 108.
  2. Heinrich Detering: Bertolt Brecht und Laotse. Gottingen 2008, S. 64 ff.
  3. Bertolt Brecht: Ausgewahlte Werke in 6 Banden . Suhrkamp 1997, Bd. 3, S. 474 f.
  4. Brecht: Die hoflichen Chinesen, GW 11, 100
  5. Heinrich Detering, Bertolt Brecht und Laotse, Gottingen 2008, S. 82 ff.
  6. Jan Knopf (Hrsg.): Brecht-Handbuch . J.B. Metzler Stuttgart 2001, Band 2, S. 299
  7. Walter Benjamin: Versuche uber Brecht , Frankfurt/M 1971, edition suhrkamp 172, S. 92 ff.
  8. H. A.: Menschen in finsteren Zeiten, Piper, Munchen 1989, 2001 ISBN 3-492-23355-4 S. 277 f.
  9. Reclams Universalbibliothek , Verlagsort Leipzig, # 397. Bei fruheren Ausgaben hatte sie lediglich die Typografie des Covers gestaltet, die fur die gesamte Reihe (RUB) gleich war.