Basis-Uberbau-Modell von
Gesellschaftsformationen
Das Begriffspaar
Basis und Uberbau
dient im
Marxismus
zur Unterscheidung der
wirtschaftlichen
Existenzgrundlage vom darauf aufbauenden und zuruckwirkenden Staat einerseits und den herrschenden Vorstellungen einer Gesellschaft andererseits.
Karl Marx
schreibt im Vorwort
Zur Kritik der politischen Okonomie
von 1859:
?In der gesellschaftlichen Produktion ihres Lebens gehen die Menschen bestimmte notwendige von ihrem Willen unabhangige Verhaltnisse ein,
Produktionsverhaltnisse
, die einer bestimmten Entwicklungsstufe ihrer materiellen
Produktivkrafte
entsprechen. Die Gesamtheit dieser Produktionsverhaltnisse bildet die okonomische Struktur der Gesellschaft, die reale Basis, worauf sich ein juristischer und politischer Uberbau erhebt, und welcher bestimmte gesellschaftliche Bewußtseinsformen entsprechen.“
[1]
Karl Marx
,
Theorien uber den Mehrwert
, 1956
Wahrend der Begriff der ?okonomischen Basis“ hier deutlich als ?die Gesamtheit dieser Produktionsverhaltnisse“ definiert ist (also den Entwicklungsstand der Produktivkrafte, die Produktionsweise und die Produktions- und Verkehrsverhaltnisse umfasst), bleibt in diesem Zitat noch undeutlich, was genau unter dem ?Uberbau“ zu verstehen ist. Mit dieser Stelle inhaltlich ubereinstimmend sagt er aber in Band I seiner
Theorien uber den Mehrwert
(1862/63):
?Aus der bestimmten Form der materiellen Produktion ergibt sich eine bestimmte Gliederung der Gesellschaft ? Nr. 1, zweitens ein bestimmtes Verhaltnis der Menschen zur Natur. Ihr Staatswesen und ihre geistige Anschauung ist durch beides bestimmt. Also auch die Art ihrer geistigen Produktion.“
[2]
Der Begriff ?Uberbau“ bezeichnet demnach also den Staatsapparat
[3]
und umfasst die
rechtlichen
und
politischen
Einrichtungen des Staates, wahrend die politischen,
religiosen
,
philosophischen
und sonstigen Vorstellungsweisen der Menschen die ?Bewußtseinsformen“ einer Gesellschaft bilden. Siehe Friedrich Engels 1878 in der Einleitung zum
Anti-Duhring
:
?[Es zeigte sich] daß also die jedesmalige okonomische Struktur der Gesellschaft die reale Grundlage bildet, aus der der gesamte Uberbau der rechtlichen und politischen Einrichtungen sowie der religiosen, philosophischen und sonstigen Vorstellungsweise eines jeden geschichtlichen Zeitabschnittes in letzter Instanz zu erklaren sind.“
[4]
Es handelt sich daher beim Uberbau und den Bewusstseinsformen um getrennte Erscheinungen, die aber auf einer Ebene liegen und beide auf der historisch bestimmten Art und Weise der materiellen Produktion der Gesellschaft beruhen. Diese Ansichten hatten Marx und Engels bereits 1845 in der erst 1932 vollstandig veroffentlichten Schrift
Die deutsche Ideologie
[5]
formuliert:
?Die Vorstellungen, die sich diese Individuen machen, sind Vorstellungen entweder uber ihr Verhaltnis zur Natur oder uber ihr Verhaltnis untereinander, oder uber ihre eigene Beschaffenheit. Es ist einleuchtend, dass in allen diesen Fallen diese Vorstellungen der ? wirkliche oder illusorische ? bewusste Ausdruck ihrer wirklichen Verhaltnisse und Betatigung, ihrer Produktion, ihres Verkehrs, ihrer gesellschaftlichen und politischen Organisation sind.“
[6]
?Auch die Nebelbildungen im Gehirn der Menschen sind notwendige Sublimate ihres materiellen, empirisch konstatierbaren und an materielle Voraussetzungen geknupften Lebensprozesses. Die Moral, Religion,
Metaphysik
und sonstige
Ideologie
und die ihnen entsprechenden Bewußtseinsformen behalten hiermit nicht langer den Schein der Selbstandigkeit. Sie haben keine Geschichte, sie haben keine Entwicklung, sondern die ihre materielle Produktion und ihren materiellen Verkehr entwickelnden Menschen andern mit dieser ihrer Wirklichkeit auch ihr Denken und die Produkte ihres Denkens. Nicht das Bewußtsein bestimmt das Leben, sondern das Leben bestimmt das Bewußtsein.“
[7]
Innerhalb der marxistischen Theorie gibt es hierzu unterschiedliche Auslegungen. In der einen grundsatzlichen Auffassung bedingt und bestimmt die reale okonomische Basis einer Gesellschaft letztlich ihren Uberbau (nicht: ?geistigen Uberbau“, denn der ?Uberbau“ bezeichnet immer schon etwas ?Geistiges“). Zwar wirkt der Uberbau beispielsweise durch Erfindungen, technische Entwicklungen, Gesetzgebung etc. direkt auf die Basis zuruck, doch diese setzt sich in letzter Instanz stets mit Notwendigkeit durch und bringt damit schlussendlich den Uberbau einer Gesellschaft hervor.
Der
Marxismus-Leninismus
der
realsozialistischen
Lander war der Auffassung, dass sich in
antagonistischen
Gesellschaften zuerst die Basis einer neuen Gesellschaft im Schoß der alten entwickelt und danach der Uberbau umgesturzt wird (
Revolution
), wahrend beim Ubergang zum
Kommunismus
zuerst ein neuer Uberbau geschaffen werden muss, ehe sich eine neue Basis entwickeln kann. An diesem Punkt entzundet sich heute ein innermarxistischer Streit, bei dem diese Besonderheit der gesellschaftlichen Entwicklung von vielen fur falsch angesehen wird.
Der britische Marxist
Chris Harman
stellte fest, dass es uber das Begriffspaar ?Basis“ und ?Uberbau“ einige Verwirrung gebe, die einigen Formulierungen von Marx selbst geschuldet sind.
?Seitdem haben Marxisten uber diese Außerung gestritten. Was ist die ?Basis‘? Was die Wirtschaft? Die Produktivkrafte? Technologie? Die Produktionsverhaltnisse? Was umfasst der Uberbau? Offensichtlich den Staat. Aber wie ist es mit Ideologie (und revolutionarer Theorie)? Mit der Familie? Mit dem Staat, wenn er Eigentumer der Industrie ist?“
[8]
In Abgrenzung vom Marxismus-Lenismus ebenso wie von der Schule Althussers und vom Kautskyanismus formuliert Harman:
?Die Unterscheidung zwischen Basis und Uberbau ist keine zwischen einer Garnitur Einrichtungen und einer anderen, wobei sich auf der einen Seite okonomische Einrichtungen und auf der anderen politische, juristische, ideologische und so weiter befinden. Sie ist eine Unterscheidung zwischen unmittelbar mit der Produktion verbundenen ?Verhaltnissen einerseits und denen‘, die nicht direkt mit der Produktion verbunden sind. Viele spezielle Einrichtungen gehoren weder nur zu der einen noch der anderen Seite.“
Aber:
?[…] einige Elemente der gesellschaftlichen Struktur [konnen], wenn sie erst einmal entstanden sind, die Entwicklung anderer hemmen. Das Alte steht im Widerspruch zu dem Neuen. Die alte Organisationsform des Staats entwickelt sich zum Beispiel aus den Erfordernissen der Ausbeutung zu einem bestimmten Zeitpunkt der Geschichte und hat fortgesetzte Auswirkungen auf die Produktion. Aber sie steht in Widerspruch zu den neuen Verhaltnissen, die bestandig mit der weiteren Entwicklung der Produktion aufkommen.“
Bereits in dem eingangs angefuhrten Zitat aus
Zur Kritik der politischen Okonomie
gebraucht Marx außer ?Basis ? Uberbau“ auch das Begriffspaar ?Produktivkraft ? Produktionsverhaltnisse“. Am angegebenen Ort schreibt er etwas spater genaueres zur Bedeutung dieses Verhaltnisses fur den Prozess der Umwalzung der gesellschaftlichen Ordnung:
?Auf einer gewissen Stufe ihrer Entwicklung geraten die materiellen Produktivkrafte der Gesellschaft in Widerspruch mit den vorhandenen Produktionsverhaltnissen oder, was nur ein
juristischer
Ausdruck dafur ist, mit den Eigentumsverhaltnissen, innerhalb deren sie sich bisher bewegt hatten. Aus Entwicklungsformen der Produktivkrafte schlagen diese Verhaltnisse in Fesseln derselben um. Es tritt dann eine Epoche
sozialer Revolution
ein. Mit der Veranderung der okonomischen Grundlage walzt sich der ganze ungeheure Uberbau langsamer oder rascher um.“
[9]
Unter den Produktivkraften ist nach dem obigen Zitat aus den
Theorien uber den Mehrwert
allgemein das Verhaltnis des Menschen zur Natur zu verstehen. Obwohl zu den
materiellen
Produktivkraften objektiv auch die Natur selbst gehort und sich auf einer gewissen Entwicklungsstufe der gesellschaftlichen Produktivkrafte auch ein Widerspruch zwischen der Natur und den Produktionsverhaltnissen feststellen lasst (dessen Auswirkungen etwa in der sich entwickelnden
Klimakatastrophe
sichtbar sind), ist zweifelhaft, ob Marx hier auch die Natur mit unter die ?materiellen Produktivkrafte“ zahlt. Fest steht nur, dass er damit den Menschen und die
Technik
bezeichnet.
[10]
Die Produktionsverhaltnisse umfassen nach derselben Stelle die Gliederung der Gesellschaft. Diese Gliederung, das heißt die Gesellschaftsstruktur, wird aber durch den
Staat
reprasentiert, der den Notwendigkeiten der
Produktion
einen organisatorischen (
politischen
) und rechtlichen Rahmen gibt. Siehe dazu Marx und Engels in
Die deutsche Ideologie
(1845/46):
?Die gesellschaftliche Gliederung und der Staat gehen bestandig aus dem Lebensprozess bestimmter
Individuen
hervor; aber dieser Individuen … wie sie
wirklich
sind, d. h. wie sie wirken, materiell produzieren, also wie sie unter bestimmten materiellen und von ihrer Willkur unabhangigen Schranken, Voraussetzungen und Bedingungen tatig sind.“
[11]
Stoßt die Entwicklung der Technik oder des Menschen also auf ein Hindernis, das in der bestehenden Gesellschaftsordnung begrundet ist, so zeigt sich dies zunachst in einer Ablehnung dieser Ordnung, die schließlich
revolutionar
uberwunden wird. In Bezug auf die
burgerliche Revolution
beschrieben Marx und Engels diese Gesetzmaßigkeit im
Kommunistischen Manifest
(1848) so:
?Die Produktions- und Verkehrsmittel, auf deren Grundlage sich die
Bourgeoisie
heranbildete, wurden in der feudalen Gesellschaft erzeugt. Auf einer gewissen Stufe der Entwicklung dieser Produktions- und Verkehrsmittel entsprachen die Verhaltnisse, worin die
feudale Gesellschaft
produzierte und austauschte, die feudale Organisation der
Agrikultur
und
Manufaktur
, mit einem Wort die feudalen Eigentumsverhaltnisse den schon entwickelten Produktivkraften nicht mehr. Sie hemmten die Produktion, statt sie zu fordern. Sie verwandelten sich in ebenso viele Fesseln. Sie mußten gesprengt werden, sie wurden gesprengt.“
[12]
Am selben Ort entwickelten sie aber auch, inwiefern die entstandene burgerliche Gesellschaft selbst einen Widerspruch zwischen Produktivkraften und Produktionsverhaltnissen produziert, der in der sozialen Revolution gelost werden und dabei den Uberbau (sowohl den Staat selbst als auch die Rechtsverhaltnisse, insbesondere die Eigentumsverhaltnisse) umwalzen soll:
?Der moderne Arbeiter dagegen, statt sich mit dem Fortschritt der
Industrie
zu heben, sinkt immer tiefer unter die Bedingungen seiner eigenen Klasse herab. Der Arbeiter wird zum
Pauper
, und der Pauperismus entwickelt sich noch rascher als Bevolkerung und Reichtum. Es tritt hiermit offen hervor, daß die Bourgeoisie unfahig ist, noch langer die herrschende Klasse der Gesellschaft zu bleiben und die Lebensbedingungen ihrer Klasse der Gesellschaft als regelndes Gesetz aufzuzwingen. Sie ist unfahig zu herrschen, weil sie unfahig ist, ihrem Sklaven die Existenz selbst innerhalb seiner Sklaverei zu sichern, weil sie gezwungen ist, ihn in eine Lage herabsinken zu lassen, wo sie ihn ernahren muß, statt von ihm ernahrt zu werden. Die Gesellschaft kann nicht mehr unter ihr leben, d. h., ihr Leben ist nicht mehr vertraglich mit der Gesellschaft.“
[13]
Und bereits 1844 schrieb Marx in seinen
Okonomisch-philosophischen Manuskripten
uber das kapitalistische Privateigentum, das in der sozialen Revolution aufgehoben werden soll, um die Entwicklung der Produktivkraft Mensch von ihren Fesseln zu befreien:
?Dies
materielle
, unmittelbar
sinnliche
Privateigentum ist der materielle sinnliche Ausdruck des
entfremdeten
menschlichen
Lebens. … Die positive Aufhebung des
Privateigentums
, als die Aneignung des
menschlichen
Lebens, ist daher die positive Aufhebung aller Entfremdung, also die Ruckkehr des Menschen aus
Religion
,
Familie
, Staat etc.
[14]
in sein
menschliches
, d. h. gesellschaftliches Dasein. … Es versteht sich, daß die Bewegung bei den verschiedenen Volkern ihren
ersten
Beginn danach nimmt, ob das wahre
anerkannte
Leben des Volkes mehr im
Bewußtsein
oder in der außeren Welt vor sich geht, mehr das
ideelle
oder
reelle
Leben ist.“
[15]
Zusammenfassend und vor einem schematisch-
dogmatischen
Gebrauch des Basis-Uberbau-
Modells
warnend schreibt Friedrich Engels in seinem Brief an
Joseph Bloch
(1890):
?Nach
materialistischer
Geschichtsauffassung ist das in
letzter Instanz
bestimmende Moment in der Geschichte die Produktion und
Reproduktion
des wirklichen Lebens. Mehr hat weder Marx noch ich je behauptet. Wenn nun jemand das dahin verdreht, das okonomische Moment sei das
einzig
bestimmende, so verwandelt er jenen Satz in eine nichtssagende,
abstrakte
,
absurde
Phrase. Die
okonomische
Lage ist die Basis, aber die verschiedenen Momente des Uberbaus ? politische Formen des
Klassenkampfs
und seine Resultate ?
Verfassungen
, nach gewonnener Schlacht durch die siegende Klasse festgestellt usw. ? Rechtsformen, und nun gar die
Reflexe
aller dieser wirklichen Kampfe im Gehirn der Beteiligten, politische, juristische, philosophische
Theorien
, religiose Anschauungen und deren Weiterentwicklung zu Dogmensystemen, uben auch ihre Einwirkung auf den Verlauf der geschichtlichen Kampfe aus und bestimmten in vielen Fallen vorwiegend deren
Form
.
Es ist eine
Wechselwirkung
aller dieser Momente, worin schließlich durch alle die unendliche Menge von
Zufalligkeiten
(d. h. von Dingen und Ereignissen, deren innerer Zusammenhang untereinander so entfernt oder so unnachweisbar ist, dass wir ihn als nicht vorhanden betrachten, vernachlassigen konnen) als Notwendiges die okonomische Bewegung sich durchsetzt. […]
Wir machen unsere Geschichte selbst, aber erstens unter sehr bestimmten Voraussetzungen und Bedingungen. […] Zweitens aber macht sich die Geschichte so, dass das Endresultat stets aus den
Konflikten
vieler Einzelwissen hervorgeht, wovon jeder wieder durch eine Menge besonderer Lebensbedingungen zu dem gemacht wird, was er ist; es sind also unzahlige einander durchkreuzende Krafte, eine unendliche Gruppe von
Krafteparallelogrammen
, daraus eine
Resultante
? das geschichtliche Ergebnis ? hervorgeht, die selbst wieder als das Produkt einer, als Ganzes bewusstlos und willenlos wirkenden Macht angesehen werden kann.“
[16]
Karl Kautskys
Interpretation des Basis-Uberbau-Konzepts sah vor, dass der Untergang des Privateigentums an den Produktionsmitteln gewiss sei.
[17]
Diese Position pragte die Marxismus-Rezeption der Parteien der
Zweiten Internationale
. In der Sowjetunion wurde diese Lehre von
Georgi Plechanow
rezipiert
[18]
und seit Ende der 1920er Jahre von
Stalin
ubernommen. Fur diesen legitimierte sie den Aufbau des Sozialismus in einem Lande, der unabhangig vom Stand des internationalen Klassenkampfes stattfinden konne. Diese Verflachung wurde von Marxisten wie von Nichtmarxisten haufig als
okonomistisch
und
deterministisch
kritisiert.
Allerdings hatte auch Plechanow die Rolle der ?gesellschaftlichen Psychologie“ im Verhaltnis von Basis und Uberbau hervorgehoben, die sich teils aus der Okonomie, teils durch die sozialpolitische Ordnung ergebe. Einerseits haben nach Plechanow alle Ideologien ihre Wurzeln in der Psychologie der betreffenden Epoche, andererseits habe die Psychologie auch eine antizipatorische Funktion; sie konne sich auf kunftige Produktionsverhaltnisse bereits vor deren hegemonialer Durchsetzung einstellen, gehe also der okonomischen Revolution voran. Darin druckte sich die damalige Naherwartung der sozialistischen Revolution aus.
[19]
Antonio Gramsci
hatte ? beeinflusst von
Antonio Labriolas
Praxisphilosophie
, die ein gewisses Primat des Handelns impliziert ? in seinen erst spat rezipierten
Gefangnisheften
den Begriff des Uberbaus deutlicher modifiziert. Die von ihm so genannte
Superstruktur
ist zweigeteilt in die Zivilgesellschaft mit Gewerkschaften, Erziehungssystem, Kirche, Medien usw. und die politische Gesellschaft mit dem Staat und seinen Korperschaften. Die herrschende Klasse ube ihre intellektuelle und moralische
Hegemonie
vor allem durch die Zivilgesellschaft aus, wo sie aufgrund ihres Prestiges spontanen Konsens finde. Nur im Ausnahmefall bediene sie sich bei der Herrschaftsausubung massiver Gewalt. So konnte das Ausbleiben einer Revolution im
Faschismus
erklart werden.
[20]
Formen der Hegemonie im Sinne Gramscis sind etwa der jahrzehntelang verbreitete Glaube an den
American Dream
, die sprachliche Dominanz der Kolonialstaaten uber die Kolonisierten oder die unangetastete Vorherrschaft bestimmter
Brands
in der globalisierten Welt.
Louis Althusser
griff Gramscis Zweiteilung der Superstruktur in seiner Unterscheidung zwischen repressiven und ideologischen Staatsapparaten auf. Damit loste er sich ganzlich von den alten Begriffsinhalten von Basis und Uberbau. Er unterschied zwischen der theoretisch-wissenschaftlichen, politischen, ideologischen und okonomischen Praxis, die sich in diesen Apparaten ungleich entwickelten. Die Konfiguration aller Praxisformen bildet demzufolge die jeweilige Gesellschaftsformation, wobei die
ideologischen Staatsapparate
wie Familie, Schule, Kirche und Medien zwischen Basis die
Ideologie
in den Subjekten reproduzieren und diese sich der Ideologie unterwerfen. Dies ist also nicht mehr nur ein Reflex der okonomischen Basis, sondern materielle Praxis.
Ende der 1950er Jahre wandte sich auch die
Neue Linke
von dem starren Basis-Uberbau-Schema ab und sprach von einer ?Wechselwirkung“, wobei der revolutionare Wille eine starke Rolle fur die Veranderung der Verhaltnisse spiele. Dafur sprachen z. B. die großen Unterschiede in der Haufigkeit von Streiks in Nord- und Suditalien.
[21]
Strittig blieb jedoch, ob und wie die Linke durch ihr Handeln Einfluss auf den Staat als Element der Uberbau nehmen konne.
Nicos Poulantzas
betrachtete den Staat nicht mehr als illusorische Verkorperung eines Gemeininteresses und damit als Bestandteil des politischen Uberbaus bzw. als abzuschaffendes Instrument einer sozialen Klasse, wie das
Ralph Miliband
als ?traditioneller“ Marxist annahm, sondern als ein relativ autonomes Feld des sozialen Kampfes, das nur allmahlich transformiert werden konne.
Scott Lash
argumentiert auf der Basis der Theorien funktionaler Differenzierung, dass Marx die funktionale Verselbststandigung des Uberbaus und dessen Eigengesetzlichkeit nicht erkannt habe. Wenn der Uberbau als vollstandig fremdbestimmt durch die Basis gedacht werde, sei dies eine fundamentalistische Argumentation.
[22]
Die Soziologen Hans van der Loo und
Willem van Reijen
verwerfen die These, dass im Zuge der
Modernisierung
die materiellen Produktionsverhaltnisse die kulturellen Sinngebungen dominieren oder determinieren wurden, als
monokausal
. Auch die umgekehrte Hypothese, wonach eine neue Art zu denken zu einer Veranderung der materiellen Daseinsformen fuhre, sei irrig. Die verschiedenen Prozesse, welche die Modernisierung ausmachten, liefen vielmehr
interdependent
ab, es lasse sich keine globale Rangordnung in diesen Prozessen erkennen.
[23]
Auch fur
Michel Foucault
existierte keine gesellschaftliche Sphare, die den anderen ubergeordnet ware.
[24]
Der Historiker
Reinhart Koselleck
bezeichnet die marxistische These, dass der Uberbau abhangig von der Basis sei, ebenfalls als monokausal, gleichwohl stelle sie eine legitime Hypothese dar. Koselleck kritisiert jedoch sowohl marxistische als auch viele burgerliche Historiker dafur, die Kategorie der Monokausalitat in einer naiven Weise zu verwenden. Zudem wirft er marxistischen Historikern vor, ihre Behauptungen aufgrund von parteipolitischen Bindungen aufzustellen und sie nicht kritisch zu hinterfragen.
[25]
Der franzosische Anthropologe und Wirtschaftsethnologe
Maurice Godelier
kritisiert die Projektion des Modells auf fruhe, wenig differenzierte menschliche Gesellschaften und weist Marx’ Bemerkung in der (1857 entworfenen, aber nicht gedruckten) Einleitung zur
Kritik der Politischen Okonomie
[26]
zuruck, wonach der Schlussel fur die Anatomie des Affen (dieser steht metaphorisch fur sog. ?primitive“ Gesellschaften) in der Anatomie des Menschen (metaphorisch fur den Kapitalismus) zu finden sei, also die ?burgerliche Okonomie den Schlussel zur antiken liefere“: In den naturnahen oder Stammesgesellschaften konnten die nicht okonomisch bedingten Verwandtschaftssysteme oder naturreligiosen Vorstellungen sowohl die Funktion der Basis als auch die des Uberbaus ubernehmen. Basis und Uberbau seien in vorkapitalistischen Gesellschaften nicht anhand von Institutionen zu unterscheiden, sondern anhand der Funktionen, die sie erfullen, wie z. B. die Regelung des Zugangs zu Ressourcen, die Verteilung der Menschen auf die verschiedenen Zweige der Arbeit und die Distribution der Produkte der Arbeit. Unser heutiges hochgradig differenziertes Gesellschaftssystem mit seinen spezialisierten Institutionen stelle demgegenuber eine Ausnahme dar. Hier seien die determinierenden Effekte eindeutiger von der Basis auf den Uberbau gerichtet.
[27]
- Friedrich Engels
:
Brief von Engels an
Walter Borgius
.
25. Januar 1894,
MEW
39, S. 206. (
online
)
- Friedrich Engels:
Brief von Engels an Joseph Bloch.
21./22. September 1890, MEW 37, S. 463. (
online
)
- Chris Harman
:
Basis und Uberbau.
Aus dem Englischen. 1986. (
online
)
- Karl Marx
:
Vorwort zu ?Zur Kritik der Politischen Okonomie“.
1859, MEW 13, S. 7?11. (
online
)
- Dieter Nohlen
,
Rainer-Olaf Schultze
(Hrsg.):
Lexikon der Politikwissenschaft. Theorien, Methoden, Begriffe.
Band 1. 2005, S. 62f.
- Friedrich Tomberg
:
Basis und Uberbau im historischen Materialismus.
In: Friedrich Tomberg:
Basis und Uberbau. Sozialphilosophische Studien.
Neuwied, Berlin 1969, S. 7?81.
- ↑
Karl Marx:
Zur Kritik der politischen Okonomie
(1859), Vorwort, MEW
Bd.13, S. 8
- ↑
Karl Marx:
Theorien uber den Mehrwert.
Band I. MEW 26.1, S. 257.
- ↑
Vergleiche dazu Karl Marx:
Der Burgerkrieg in Frankreich.
MEW 17, S. 336.
- ↑
Engels:
Anti-Duhring.
Einleitung. 1878. MEW
Band 20, S. 25
- ↑
Marx kommentiert im
Vorwort zur Kritik der politischen Okonomie
die Nichtveroffentlichung der
Deutschen Ideologie
: ?Wir uberließen das Manuskript der nagenden Kritik der Mause um so williger, als wir unsern Hauptzweck erreicht hatten ? Selbstverstandigung.“ MEW
Bd.13, S. 10
- ↑
Karl Marx, Friedrich Engels:
Die deutsche Ideologie
.
MEW
Band 3, S. 25
Dieser Text ist zwar im Manuskript gestrichen, wurde aber teils anders formuliert inhaltlich an dieser Stelle ubernommen, teils in anderen Zusammenhangen inhaltlich ubereinstimmend dargestellt.
- ↑
Karl Marx, Friedrich Engels:
Die deutsche Ideologie
.
MEW
Band 3, S. 26
- ↑
Chris Harman:
Basis und Uberbau
. In:
International Socialism
.
Nr.
2:32
. Bookmarks, London 1986 (
marxists.org
).
- ↑
Karl Marx:
Zur Kritik der politischen Okonomie
(1859), Vorwort, MEW
Bd.13, S. 9
- ↑
Die Technik hat auch eine nichtmaterielle Seite, die
Arbeitsteilung
und
Kooperation
, kurz: die Arbeitsorganisation, die hier aber nicht mit inbegriffen ist. Die
Wissenschaft
ist dagegen keine materielle Produktivkraft, sondern eine geistige.
- ↑
Karl Marx, Friedrich Engels:
Die deutsche Ideologie.
MEW 3, S. 25, Hervorhebung im Original.
- ↑
Karl Marx, Friedrich Engels:
Manifest der kommunistischen Partei.
MEW 4, S. 467.
- ↑
Karl Marx, Friedrich Engels:
Manifest der kommunistischen Partei.
MEW 4, S. 473
- ↑
vorher nennt er in dem Zusammenhang noch Recht,
Moral
, Wissenschaft,
Kunst
etc.
- ↑
Karl Marx:
Okonomisch-philosophische Manuskripte.
MEW 40, S. 537, Hervorhebungen von Marx.
- ↑
Friedrich Engels:
Brief an Joseph Bloch.
vom 21.?22. September 1890. MEW 37, S. 462.
- ↑
Karl Kautsky:
Das Erfurter Programm in seinem grundsatzlichen Theil.
Stuttgart 1892, S. 227?228.
- ↑
Georgi W. Plechanow:
Die Rolle der Personlichkeit in der Geschichte.
Berlin 1951.
- ↑
Hans Jorg Sandkuhler
:
Plechanow, Georgi Walentinowitsch
in Metzler Philosophen-Lexikon
- ↑
Benjamin Opratko:
Hegemonie. Politische Theorie nach Antonio Gramsci. Munster 2012.
- ↑
Marica Tolomelli:
Die alte und die Neue Linke. Theoretische Kontroversen und die Praxis der Theorie.
In:
?Repressiv getrennt“ oder ?organisch verbundet“
(=Forschung Politikwissenschaft 113). VS Verlag fur Sozialwissenschaften, Wiesbaden 2001, S. 177.
- ↑
Scott Lash:
Sociology of Postmodernism.
Routledge: London, New York 1990, S. 2.
- ↑
Hans van der Loo und Willem van Reijen:
Modernisierung. Projekt und Paradox
. Deutscher Taschenbuch-Verlag, Munchen 1997, S. 25 f.
- ↑
Michel Foucault:
Les mot et les choses.
Paris 1966 (dt.:
Die Ordnung der Dinge. Eine Archaologie der Humanwissenschaften.
) Frankfurt am Main 1971, 2003.
- ↑
Reinhart Koselleck:
The Practice of Conceptual History. Timing History, Spacing Concepts
. Stanford University Press, Stanford 2002, S. 13 f.
- ↑
Marx, MEW Bd. 13, S. 636.
- ↑
Maurice Godelier:
Natur, Arbeit, Geschichte. Zu einer universalgeschichtlichen Theorie der Wirtschaftsformen
(=Sozialgeschichtliche Bibliothek Bd. 6). Hamburg 1990, S. 29 f.