Die
Babylonische Mathematik
wurde von den verschiedenen Bewohnern des Zweistromlandes (
Mesopotamien
im heutigen
Irak
) entwickelt. Ihr Beginn lag vermutlich in den Tagen der fruhen
Sumerer
(um 4000 v. Chr.), und ihre Entwicklung setzte sich bis zur Eroberung von
Babylon
durch die Perser im Jahr 539 v. Chr. fort. Im Gegensatz zur
Mathematik der Agypter
, von der wegen der empfindlichen Papyri nur wenige Quellen existieren, liegt von der babylonischen
Mathematik
ein Bestand von etwa 400 Tontafeln vor, der seit etwa 1850 ausgegraben wurde. Darauf beruht unser Wissen. Die Aufzeichnungen wurden mit
Keilschrift
in den noch weichen Ton geritzt und gebrannt oder in der Sonne getrocknet. Die Mehrzahl der gefundenen Tafeln stammen aus dem Zeitraum zwischen 1800 und 1600 v. Chr. und behandeln Themen wie Bruche,
Algebra
, quadratische und kubische Gleichungen, den
Satz des Pythagoras
und Pythagoreische Tripel (
Plimpton 322
).
[1]
Auf der Tafel YBC 7289 findet sich eine Naherung fur
mit einer Genauigkeit von sechs Dezimalstellen.
Das Rechnen geschah im
Sexagesimalsystem
, das kein Stellenwertsystem darstellt, da der Stellenwert nicht ablesbar ist: Das Zeichen ?1“ kann 1/60, 60 oder 3600 bedeuten, der Wert kann nur aus dem Zusammenhang erschlossen werden. Reste dieses
Zahlensystems
finden sich noch heute in unserer Darstellung von Winkeln (1° = 60’, 1' = 60’’) und Uhrzeiten. Da 60 = 2 · 2 · 3 · 5 als Teiler die Zahlen 1, 2, 3, 4, 5, 6, 10, 12, 15, 20 und 30 hat (
Hochzusammengesetzte Zahl
), konnen wesentlich mehr Zahlen als im Dezimalsystem in endlicher Darstellung geschrieben werden, was numerische Berechnungen, insbesondere die Division, sehr erleichtert hat. Zahlen wurden ziffernweise wie heute von links nach rechts geschrieben, wobei links die Ziffern mit großerem Stellenwert standen. Das Gesagte gilt nicht fur die fruheren Tontafeln der Sumerer und Akkader; diese verwendeten ganz andere Zahldarstellungen.
Ziffer von 1 bis 59:
Eine Ziffer fur die
Null
kannten die Babylonier nicht. Sie wurde nicht als Zahl angesehen, sondern als Nichtvorhandensein einer Zahl und mit einem Leerzeichen dargestellt.
Es standen Formeln zur Flachen- und Volumenberechnung zur Verfugung. Fur die Zahl
π
wurde oft 3 als Naherung benutzt, auf einer Tafel ist der bessere Naherungswert 3 + 1/8 angegeben.
Der
Satz des Pythagoras
war bekannt, aber nur hinsichtlich seiner Anwendung, nicht im Sinne eines mathematischen Beweises.
Die altesten Zeugnisse schriftlich uberlieferter Mathematik stammen von den Sumerern, die in Mesopotamien eine der fruhesten bekannten Kulturen entwickelt haben. Aus dieser Zeit stammt ein leistungsfahiges Maßsystem. Seit 2600 v. Chr. sind Multiplikationstabellen, geometrische und arithmetische Aufgaben nachgewiesen.
Aus dieser Epoche stammen die meisten der aufgefundenen Tontafeln zur Mathematik. Der Inhalt der Tafeln besteht aus Listen und Tabellen, in anderen Fallen behandeln sie Probleme und ausgearbeitete Losungen.
Zur Unterstutzung der Arithmetik wurden vorgefertigte Tabellen benutzt. So finden sich auf zwei Tafeln, die in Senkerah am
Euphrat
im Jahr
1854
gefunden wurden und auf das Jahr 2000 v. Chr. datiert wurden, Listen mit allen Quadratzahlen der Zahlen von 1 bis 59 und den Kubikzahlen der Zahlen von 1 bis 32. Die Quadratzahlen, speziell die Viertelquadrattabelle, ermoglichten das Berechnen von Produkten mit einer Addition und zwei Subtraktionen, sowie dem Aufsuchen zweier Quadrate in einer Quadratzahltabelle mit den Formeln.
(Viertelquadratmethode). Statt z. B. 3 · 6 direkt zu berechnen, berechnet man 3 + 6 = 9 und 6 ? 3 = 3 (großere minus kleinere!) und schlagt die Viertelquadrate von 9 und 3 in der Tabelle (
) nach. Ergebnis: 20,25 und 2,25. Diese beiden Zahlen werden subtrahiert und ergeben das Produkt 20,25 - 2,25 = 18.
Die Division wurde nicht mit einem direkten Algorithmus durchgefuhrt, sondern mit der Formel
auf die Multiplikation zuruckgefuhrt. Dazu standen ausgedehnte Tabellen mit den Reziprokwerten zur Verfugung.
Die Reziprokwerte von 7, 11, 13 u. a. haben im Sexagesimalsystem keine endliche Darstellung mehr. Deshalb wurden z. B. fur 1/13 Approximationen benutzt:
Quadratische Gleichungen wurden mit der auch heute noch von allen Schulern zu lernenden Formel gelost. Da keine negativen Zahlen zur Verfugung standen, wurde etwa
mit nicht notwendig ganzzahligem, jedoch positivem
und
als
angegeben. Die (eindeutig positive) Wurzel wurde der Quadrattabelle entnommen.
Auch die Losung kubischer Gleichungen war bekannt. Dazu wurden
n
3
+
n
2
tabelliert. Zur Losung von
wurde die Gleichung mit
a
2
multipliziert und durch
b
3
dividiert mit dem Ergebnis
Die Substitution
y
=
ax
/
b
ergibt
Das kann nach y aufgelost werden, wenn man
n
3
+
n
2
in der Tabelle nachschlagt, um den besten Wert fur die rechte Seite aufzufinden. (Beispiel:
;
. Die Tabelle liefert
und
)
Die Rechnung wurde ohne algebraische Notation ausgefuhrt, was auf ein bemerkenswert tiefes Verstandnis der zugrundeliegenden Mathematik hinweist. Fur eine Kenntnis der allgemeinen kubischen Gleichung gibt es keine Hinweise.
Wie die relativ bekannte Tontafel YBC 7289
[2]
[3]
beweist, konnten nach der Methode von
Heron
Quadratwurzeln mit hoher Genauigkeit berechnet werden.
Resumee: Es wurden umfangreiche Rechnungen mit rationalen Zahlen unter Verwendung von Tabellen durchgefuhrt. Zum Nachvollziehen sei ein kurzer Ausschnitt aus einer solchen Tabelle (im Dezimalsystem!) angegeben:
n n^2 n^2/4 1/n n^2+n^3
1 1 0 1,000000 2
2 4 1 0,500000 12
3 9 2 0,333333 36
…
3,75 66,8
…
4 16 4 0,250000 80
5 25 6 0,200000 150
6 36 9 0,166667 252
7 49 12 0,142857 392
8 64 16 0,125000 576
9 81 20 0,111111 810
10 100 25 0,100000 1100
…
Die allgemeinen Regeln zur Flachen- und Volumenberechnung waren bekannt. Der Umfang U eines Kreises mit Durchmesser d wurde mit U = 3 · d und die Flache A mit A = U · U / 12 angenommen. Beides verwendet die schlechte Naherung
.
Der Satz des Pythagoras wurde benutzt, aber nicht bewiesen; die Idee des Beweisens wurde erst von den Griechen entwickelt. Es existieren Tabellen mit den
pythagoreischen Zahlentripeln
wie (3, 4, 5).
Die chaldaische Periode ist diejenige des
Neubabylonischen Reichs
(626-539 v. Chr.), der zweiten Blutezeit der Stadt Babylon. Die Stadt war Hauptstadt des Reichs und Zentrum der Wissenschaft. Die Quellenlage fur diese Zeit ist jedoch ungunstiger.
Seit der Wiederentdeckung der babylonischen Kultur wurde offensichtlich, dass die griechischen Astronomen, besonders
Hipparchos
, uber Informationen aus chaldaischen Quellen verfugten.
Franz Xaver Kugler
wies in seinem Buch
Die Babylonische Mondrechnung
nach, dass Mondphasen schon in babylonischen Ephemeridentabellen auftauchen, die nach Ptolemaus (Almagest IV.2) von Hipparchos und ihm selbst unter Berucksichtigung alterer Beobachtungen der ?Chaldaer“ verbessert wurden. Nach Kugler tauchen diese Werte in einer Tafelsammlung auf, die heute als ?System B“ bekannt ist und die manchmal dem Astronomen
Kiddinu
zugeschrieben wird. Offensichtlich haben Ptolemaus und Hipparchos die alteren Werte lediglich durch aktuelle Beobachtungen uberpruft.
Wir wissen, dass Hipparchos und spater
Ptolemaus
uber im Wesentlichen vollstandige Listen von Finsternissen uber mehrere Jahrhunderte verfugt hatten. Diese Listen stammen wahrscheinlich von Tontafeln, die samtliche relevanten Beobachtungen enthalten, die von den Chaldaern routinemaßig aufgezeichnet wurden. Erhaltene Tafeln sind zwischen
652 v. Chr.
bis
130 n. Chr.
datiert, aber die Aufzeichnungen gingen wahrscheinlich bis in die Regierungszeit des Konigs
Nabonassar
von Babylon zuruck. Bei Ptolemaus beginnt die Aufzeichnung am ersten Tag des agyptischen Kalenders der ersten Regierungsjahre von Nabonassar, also am 26. Februar 747 v. Chr.
Die Rohdaten waren wahrscheinlich schwer benutzbar, sodass
Exzerpte
hergestellt wurden. So hat man z. B. Tafeln mit allen Finsternisereignissen aufgefunden. Konkret gibt es eine Tafel mit allen Finsternissen eines
Saroszyklus
. Damit konnten periodische Wiederholungen astronomischer Ereignisse identifiziert werden. Im System B wurden folgende Perioden gefunden (
Almagest
IV.2):
- 223
synodische Monate
= 239
anomalistische Monate
= 242
drakonitische Monate
. Diese Periode heißt heute der Saroszyklus und wird zur Vorhersage von Finsternissen benutzt.
- 251 synodische Monate = 269 anomalistische Monate
- 5458 synodische Monate = 5923 drakonitische Monate
- 1 synodischer Monat = 29;31:50:08:20 Tage (sexagesimal; Dezimalwert: 29,53059413… Tage = 29 Tage 12 Stunden 44 min 3⅓ s)
Von den Babyloniern wurden alle Perioden in synodischen Monaten ausgedruckt, da wahrscheinlich ein
lunisolarer Kalender
verwendet wurde. Verschiedene Beziehungen von Phanomenen im Jahresverlauf fuhrten zu mehreren Werten der
Jahreslange
.
Auch fur andere Planeten waren mehrere Messwerte fur deren Umlaufe um die Sonne bekannt. Die Werte, die Ptolemaus dem Astronomen Hipparchos im
Almagest
IX.3 zuschreibt, existierten schon auf alteren babylonischen Tafeln als Voraussagen.
Unklar ist, wann, inwieweit und auf welchen Wegen Teile dieses Wissens den Griechen zuganglich wurden. Dies war nur dadurch moglich, dass babylonische Gelehrte Werke in griechischer Sprache verfassten, denn die Griechen pflegten keine Fremdsprachen zu lernen und konnten keine Keilschrifttexte lesen.
- Kurt Vogel
:
Vorgriechische Mathematik, Teil II.
Hannover/Paderborn 1959.
- ↑
Norbert Froese: Pythagoras & Co. - Griechische Mathematik vor Euklid, S. 10
(PDF; 887 kB)
- ↑
YBC 7289.
math.ubc.ca,
abgerufen am 11. Mai 2011
.
- ↑
YBC 7289.
it.stlawu.edu,
abgerufen am 11. Mai 2011
.