Annales
(?
Annalen
“) ist der ubliche Titel des zweiten großen Geschichtswerks (neben den
Historien
) des romischen Historikers
Tacitus
. Der handschriftlich uberlieferte Titel lautet allerdings
Ab excessu divi Augusti
(?ab dem Tod des gottlichen Augustus“).
Im 9. Jahrhundert wurden die ersten sechs Bucher der
Annales
im
Kloster Fulda
kopiert. Eine Abschrift gelangte als
Urhandschrift
ins
Kloster Corvey
bei Hoxter, wo sie 1508 von einem weltlichen Gelehrten wiederentdeckt und spater im Auftrag italienischer
Humanisten
gestohlen wurde. Papst
Leo X.
gelangte in den Besitz der Abschrift und veranlasste die Veroffentlichung. Sie befindet sich heute in der
Biblioteca Medicea Laurenziana
in
Florenz
und wird unter der Sigle
Codex Mediceus I
=
Codex Laurentianus Plut. 68,1
gefuhrt. Die Bucher 11?16 sind in einer Handschrift aus der
Abtei Montecassino
aus dem 11. Jahrhundert als Urhandschrift uberliefert, die vermutlich ebenfalls aus Deutschland stammte und sich heute in der Laurenziana befindet und die Sigle
Codex Mediceus II
=
Codex Laurentianus Plut. 68,2
tragt; diese Handschrift ist gleichfalls die Urhandschrift fur die ?
Historien
“ des Tacitus.
[1]
Das Werk bestand aus 16 (moglicherweise auch 18) Buchern.
[2]
Es behandelte die Zeit vom Tod des
Augustus
und dem Regierungsantritt des
Tiberius
bis (wahrscheinlich) zum Tod
Neros
. Vollstandig erhalten sind die Bucher 1 bis 4 sowie 11 bis zum Beginn von Buch 16, wobei der Anfang des 11. und der Schluss des 16. Buchs fehlt. Teilweise erhalten sind die Bucher 5 (sehr fragmentarisch) und 6. Die Lucken im Werk umfassen die Jahre 29?31, 37?47 sowie 66?68 n. Chr.
Die
Annales
wurden zwischen 110 und 120 n. Chr. veroffentlicht und sollten die Zeit vor dem in den
Historien
behandelten Zeitraum abdecken. Sie sind das letzte und reifste Werk des Tacitus (
Manfred Fuhrmann
), stilistisch wohl unubertroffen. Das Werk ist der Hohepunkt der romischen Annalistik und der
senatorischen Geschichtsschreibung
. In spaterer Zeit gewann allerdings die biographische Darstellung, die mit
Sueton
wirkungsmachtig in der romischen Geschichtsschreibung einsetzte, die Oberhand. Erst
Ammianus Marcellinus
knupfte wieder an Tacitus an.
Auch wenn Tacitus in seinem Werk nach eigenen Worten eine objektive Beschreibung ohne Parteilichkeit anstrebt (?
sine ira et studio
“, 1,1,3), so ist er dennoch teilweise sehr parteiisch, besonders was die Regierungszeit des Tiberius betrifft. Die moderne Forschung hat das in den
Annales
vermittelte Bild eines dusteren Tyrannen in weiten Teilen korrigiert. Tacitus hing offenbar immer noch dem alten Ideal einer
res publica libera
an und kritisierte das Kaisertum ganz generell.
[3]
Seine Bewunderung galt dem alten
republikanischen Rom
, wenngleich er sich nicht der Illusion hingab, dass die Republik wiederherzustellen sei, zumal das
Prinzipat
auch dem Chaos der Burgerkriege ein Ende bereitet hatte, was Tacitus sehr wohl anerkannte. Generell ist das Geschichtsbild dennoch von einem recht starken Pessimismus gepragt, wobei er den Sittenverfall seiner Zeit und den Verlust der Freiheit beklagt, die in der Republik freilich ebenfalls nur einer Minderheit vergonnt gewesen war.
[4]
Die Darstellung in den
Annales
wechselt immer wieder zwischen der Lage in Rom und am Hof sowie der Darstellung der Außenpolitik, besonders der Feldzuge gegen die
Germanen
unter
Germanicus
(
Germanicus-Feldzuge
14 bis 16 n. Chr.) und die Politik gegenuber dem
Partherreich
. Die Quellenlage hierzu ist schwer einzuschatzen, da Tacitus nur selten uber seine Quellen Auskunft gibt. Er benutzte aber offenbar mehrere (heute verlorene) Quellen, darunter Archivmaterial, die verlorenen
Historien
des
alteren Plinius
sowie dessen ebenfalls nicht erhaltenes Werk uber die Germanenkriege in 20 Buchern.
[5]
Daneben wurden unter anderem die Erinnerungen der
Agrippina
sowie vermutlich die Geschichtswerke des
Fabius Rusticus
und des
Cluvius Rufus
genutzt. In Frage kommen auch die
Historien
des
Aufidius Bassus
und das Werk des
Servilius Nonianus
.
Einsprachig lateinische Ausgaben
- Charles Dennis Fisher
:
Cornelii Taciti Annalium ab excessu divi Augusti libri
(
Scriptorum classicorum bibliotheca Oxoniensis
). Clarendon Press, Oxford 1906. Nachdruck, Oxford 1951.
- Erich Koestermann
(Hrsg.):
P. Cornelii Taciti libri qui supersunt. Tomus 1, Fasciculus 1: Libri ab excessu Divi Augusti I?VI.
Teubner, Leipzig 1934. Neubearbeitung, Leipzig 1960. Zweite Auflage, Leipzig 1965 (maßgebliche Textedition).
- Erich Koestermann (Hrsg.):
P. Cornelii Taciti libri qui supersunt. Tomus 1, Fasciculus 2: Libri ab excessu Divi Augusti XI?XVI.
Teubner, Leipzig 1936. Neubearbeitung, Leipzig 1960. Zweite Auflage, Leipzig 1965 (maßgebliche Textedition).
- Henricus Heubner
(Hrsg.):
P. Corneli Taciti libri qui supersunt. Tomus I: Ab excessu divi Augusti.
Teubner, Stuttgart 1983,
ISBN 3-519-01833-0
. Korrigierte Ausgabe, Stuttgart 1994,
ISBN 3-519-11833-5
.
- Kenneth Wellesley (Hrsg.):
Cornelii Taciti libri qui supersunt. Tomus I: Ab excessu Divi Augusti (Annales). Pars 2: Ab excessu divi Augusti libri XI?XVI
(
Bibliotheca Teubneriana
). B. G. Teubner, Leipzig 1986,
ISBN 3-322-00270-5
.
- Stephanus Borzsak
(Hrsg.):
Cornelii Taciti libri qui supersunt. Tomus I: Ab excessu Divi Augusti (Annales). Pars 1: Ab excessu divi Augusti libri I?VI
(
Bibliotheca Teubneriana
). B. G. Teubner, Leipzig 1992,
ISBN 3-8154-1835-6
.
Ubersetzungen, teils mit Kommentar
- Ludwig Maenner (Ubers.):
Cornelius Tacitus, Tiberius. Annales ab excessu Divi Augusti/Roms Geschichte seit Augustus Tod. Erster Teil: I.?III. Buch.
Lateinisch und Deutsch. Munchen 1923.
- August Horneffer
(Ubers.):
Annalen
. Mit einer Einleitung von
Joseph Vogt
und Anmerkungen von Werner Schur. Stuttgart 1957.
- Walther Sontheimer
(Hrsg.):
Tacitus, Annalen I?VI. Lateinisch/Deutsch.
Reclam, Stuttgart 1964.
- Walther Sontheimer (Hrsg.):
Tacitus, Annalen XI?XVI. Lateinisch/Deutsch.
Reclam, Stuttgart 1967.
- Erich Heller (Hrsg.):
Annalen
. Lateinisch-Deutsch. Mit einer Einfuhrung von
Manfred Fuhrmann
(
Sammlung Tusculum
). 3. Auflage, Dusseldorf/Zurich 1997 (nur mit deutscher Ubersetzung in der
Bibliothek der Alten Welt
).
- John Jackson
(Ubers.):
The Annals
(
Loeb Classical Library
). 3 Bande, Harvard University Press/Heinemann, Cambridge (Mass.)/London 1931?1937 (Nachdruck 1969?1970).
- The Annals: The Reigns of Tiberius, Claudius, and Nero
. Oxford World’s Classics. Translated by John C. Yardley, with introduction and notes by
Anthony A. Barrett
. Oxford/New York 2008.
Wissenschaftliche Kommentare
- Erich Koestermann:
Tacitus / Annalen.
Vier Bande, Heidelberg 1963?1968 (maßgeblicher Kommentar).
- Michael von Albrecht
:
Geschichte der romischen Literatur
. Band 2, 3. Auflage (als Taschenbuch), Munchen 2003, S. 869 ff.
- Olivier Devillers:
Tacite et les sources des Annales
. Leuven 2003.
- R. H. Martin:
Structure and Interpretation in the Annals of Tacitus
. In:
Aufstieg und Niedergang der romischen Welt
. Band II.33.2. Berlin-New York 1990, S. 1500?1581 (siehe auch weitere Beitrage im gleichen Bd. sowie in ANRW, Band II.33.4. Berlin-New York 1991).
- Ronald Mellor:
Tacitus' Annals
. Cambridge 2010.
- Franz Romer
:
Kritischer Problem- und Forschungsbericht zur Uberlieferung der taciteischen Schriften.
In: Wolfgang Haase et al. (Hrsg.):
Aufstieg und Niedergang der romischen Welt
II. Prinzipat, Band 33,3. Walter de Gruyter, Berlin/New York 1991,
ISBN 3-11-012541-2
, S. 2299?2339, hier S. 2302 ff.
- Francesca Santoro L’Hoir:
Tragedy, Rhetoric, and the Historiography of Tacitus' Annales
. University of Michigan Press, Ann Arbor 2006.
- Stephan Schmal:
Tacitus
. Olms, Hildesheim 2005,
ISBN 3-487-12884-5
(2., unveranderte Auflage 2009).
- Ronald Syme
:
Tacitus
. 2 Bande. Clarendon Press, Oxford 1958.
- ↑
Dieter Mertens
:
Die Instrumentalisierung der ?Germania“ des Tacitus durch die deutschen Humanisten.
In:
Heinrich Beck
(Hrsg.):
Zur Geschichte der Gleichung ?germanisch ? deutsch“.
De Gruyter, Berlin u. a. 2004,
ISBN 3-11-017536-3
, S. 37?101 (
PDF
; 6,2 MB).
- ↑
Hieronymus
kannte die
Annales
und die
Historiae
als 30 Bucher umfassende Kaisergeschichte: Comm. in Zachar. 3, 14. Demnach haben die Historien des Tacitus 14 bzw. 12 Bucher umfasst.
- ↑
Annales
, 1, 1f.
- ↑
Allgemein von Albrecht (2003), bes. S. 889 ff.
- ↑
Die Werke gingen bereits in der
Spatantike
verloren, siehe
Symmachus
,
Epistulae
4,18.