Gedenktafel
am
Alfred-Lion-Steg
, in
Berlin-Schoneberg
Alfred Wladislaus Lion
(angeblich eigentlich
Alfred Low
)
[1]
(*
21. April
1908
in
Schoneberg
bei
Berlin
; †
2. Februar
1987
in
San Diego
,
Kalifornien
), war einer der Grunder des
Jazz
-
Plattenlabels
Blue Note
,
das heute einen legendaren Ruf als ?Inbegriff des Jazzlabels“ genießt.
Lion wurde 1908 im Haus Wielandstraße 22 der noch selbstandigen Stadt
Schoneberg
geboren. Er zeigte schon als Kind eine ausgesprochene Begeisterung fur die Musik, wobei bezeichnend ist, wie seine Leidenschaft sich nicht etwa dergestalt auswirkte, dass der Junge sich die Muhe gemacht hatte, ein Musikinstrument richtiggehend zu erlernen. Vielmehr widmete er seine Aufmerksamkeit den damals ganz neuen Medien
Radio
und
Schallplatte
und legte seinen Ehrgeiz offenbar schon fruhzeitig in die Aufgabe, ein kompetenter Musik
horer
zu sein. Obendrein ergab sich aus den Zeitumstanden eine besonders gluckliche Konstellation fur
live
gespielte Musik: Lions Heimatbezirk Schoneberg wurde 1920 nach
Groß-Berlin
eingemeindet, und vor allem die Gegend um den
Nollendorfplatz
entwickelte sich in der Folge zu einem der eigentlichen Schauplatze der
Goldenen Zwanziger
in Deutschland. Die seinerzeit aktuellen Stromungen in allen Bereichen der Unterhaltungskultur wurden im ?Neuen Westen“ wesentlich schneller und bereitwilliger aufgenommen, als an der aus der Kaiserzeit her etablierten Amusiermeile in der
Friedrichstadt
und um den Boulevard
Unter den Linden
.
1925 horte der 16-jahrige Alfred Lion ein Berliner Gastspiel der Revue
Chocolate Kiddies
,
[2]
die von der Band des damals in New York popularen schwarzen Jazzpianisten
Sam Wooding
musikalisch begleitet wurde. Wahrend des Berlin-Aufenthalts der Band entstand eine Fotografie der Musiker im
Vox-Schallplatten-Studio
;
[3]
in dem er mit seinem Orchester 8 Titel aufnahm, die alle veroffentlicht wurden. Das elfkopfige Ensemble hatte mit
Tommy Ladnier
und
Gene Sedric
zwei spater recht beruhmte Solisten in seinen Reihen, im Repertoire befanden sich auch schon
Arrangements
von Stucken des noch wenig bekannten
Duke Ellington
. Da die
Wooding-Band
letztlich erst einige Zeit spater (eben aufgrund ihres großen Erfolges in der
Alten Welt
) in signifikantem Ausmaß Plattenaufnahmen einzuspielen begann, ist es schwer einzuschatzen, was der junge Berliner genau gehort haben mag; doch legen Aussagen von Zeitgenossen nahe, dass es sich um eine relativ kompetente fruhe
Big Band
im Stil von
Fletcher Hendersons
Orchester gehandelt haben durfte. Das Erlebnis bewegte jedenfalls Lion tief (?Es war der
Beat
? er fuhr mir direkt in die Knochen“) und stellte fur ihn die Initialzundung einer ?lebenslangen Liebesaffare mit dem Jazz“ dar. Einige Jahre spater soll er von seiner ersten, recht abenteuerlich verlaufenen Geschaftsreise in die USA mit annahernd 300
Schellackplatten
nach Berlin zuruckgekehrt sein.
Als
Jude
sah sich Lion gezwungen,
Nazideutschland
den Rucken zu kehren. Zunachst floh er mit seiner Mutter nach
Chile
, bevor ihm irgendwann in der Zeit zwischen 1936 und 1938 ? hier widersprechen sich die Angaben ? die Einwanderung in die USA gelang, wo er alsbald mit seinem Kompagnon Max Margulis in einem kleinen Buro in der New Yorker West 47th Street die Grundung eines neuen Jazzlabels in Angriff nahm.
Alfred Lions Jugendfreund
Frank (Francis) Wolff
, einem gelernten Fotografen aus wohlhabender Berliner Familie, gelang Mitte 1939 ebenfalls die Flucht in die USA. Er wurde Lions wichtigster Partner bei
Blue Note
,
und die suggestive Kombination der beiden Namen trug sicher nicht wenig zum Mythos um das Duo bei ? am deutlichsten wird dies in
Lee Morgans
Komposition
The Lion and the Wolff
auf dessen Platte
Leeway
von 1960.
Logo von Blue Note Records
Die von Lion und Margulis ins Leben gerufene Plattenfirma hatte ihre erste Aufnahmesitzung schließlich am 6. Januar 1939. Unter den damals Beteiligten waren als prominenteste Musiker die beiden seinerzeit außerordentlich beliebten
Boogie-Woogie
-
Pianisten
Albert Ammons
und
Meade Lux Lewis
anwesend. Der spater so beruhmt gewordene
Slogan
von Blue Note,
The Finest in Jazz Since 1939,
setzt damit die gesamte weitere Geschichte des Labels in Bezug zu dieser ersten
Session
. Erste Erfolge zeichneten sich bereits im folgenden Jahr 1940 ab: der
Sopransaxophonist
Sidney Bechet
spielte fur das Label eine Version von
George Gershwins
Song
Summertime
ein, die in den USA zu einem Jazzerfolg avancierte.
Zwei Ereignisse versetzten jedoch dem ambitionierten Projekt Lions erhebliche Dampfer. Das war zum einen der Kriegseintritt der USA nach dem japanischen
Angriff auf Pearl Harbor
am 7. Dezember 1941, die damit verbundenen Sonderabgaben im Entertainment-Bereich sowie die Rationierung des nunmehr knappen Rohstoffs fur die Schallplattenproduktion, namlich
Schellack
, und nicht zuletzt die eigene Einberufung zum Militardienst. Zum zweiten verkundete die amerikanische
Musicians’ Union
1942 ein Aufnahmeverbot fur Instrumentalmusiker, den sogenannten
recording ban
,
der knapp zwei Jahre lang in Kraft blieb und einem kleinen, auf Jazz spezialisierten Label die Arbeit so gut wie unmoglich machte. Lion jedoch war nicht bereit, zu resignieren, ganz im Gegenteil widmete er sich der Arbeit fur das Label jetzt hauptberuflich und bezog mit seiner ?Belegschaft“, zu der seine Frau
Lorraine
gehorte, sogar neue Buroraume in der Lexington Avenue 767. Wahrend der gesamten 1940er Jahre blieb die finanzielle Situation von Blue Note außerst prekar, sodass Max Margulis sich letztlich 1947 zum Ruckzug gezwungen fuhlte. Auch die zu Beginn der 1950er Jahre von den
Major Labels
propagierte Umstellung von 12-Zoll-Schellacks zur moderneren
Langspielplatte
war zunachst eine finanzielle Belastung fur
Blue Note
, bevor man dieses Format ab ca. 1954 zum eigenen Vorteil zu nutzen lernte.
All dies erwies sich letztendlich aber als gluckliche Fugung, da sich zeigte, dass die Zeiten fur die Asthetik von Blue Note gerade erst reif geworden waren. Der eben aufkommende neue Jazz-Stil, der heute als
Hard Bop
bezeichnet wird, traf Lions musikalischen Nerv in ungekannter Weise. Die außerst eklektische Mischung verschiedenster, vor allem afro-amerikanischer Musikeinflusse schien genau den Sound zu reprasentieren, den der Deutsche von Anfang an erstrebt hatte.
Musiker wie
Art Blakey
,
Horace Silver
,
Lee Morgan
oder
Jackie McLean
konnten von nun an auf Jahre hinaus ihre neuesten Projekte bei einem Label prasentieren, das von einem unerschutterlichen Enthusiasmus fur genau diese Musikauffassung getragen war. Lions großzugige und seinerzeit ganz unerhorte Politik, den Musikern auch einige Probentage vor der eigentlichen Session zu bezahlen, zahlte sich dabei genauso sehr aus wie die ?coole“ Fotoasthetik Wolffs, das visionare
Cover
-Design von
Reid Miles
und die pragnante Soundvorstellung des Toningenieurs
Rudy Van Gelder
.
Von etwa 1955 bis 1965 fungierte das Label der beiden deutschen Emigranten Lion und Wolff als das wesentliche ?Sprachrohr“ vor allem der afro-amerikanischen Spielarten des Jazz. Besonders verdient machte sich gerade Lion mit seinem feinen Gespur fur vielversprechende Musiker des damaligen ?Nachwuchses“. Zu seinen Proteges zahlten Musiker wie
Jimmy Smith
,
Joe Henderson
oder
Freddie Hubbard
, die teilweise schon Ende der 1960er Jahre zur Creme des Jazz-Establishments gehoren sollten. Gelegentlich machte sich auch Lions Ehefrau Ruth, die Jazz-Sangerin war, fur junge Talente stark ? so etwa im Fall ihrer Kollegin
Sheila Jordan
. Bei allem Idealismus blieb Lion doch Realist genug, um einzusehen, dass seine kreative Firmenpolitik durch ein gewisses Maß an kommerziellem Erfolg unterfuttert werden musste. Auf diese Weise gelang es Blue Note sogar, mit einigen Single-Auskopplungen richtiggehende
Chart
-Erfolge zu lancieren. Zu Letzteren zahlten vor allem Horace Silvers
Song for My Father
und Lee Morgans
The Sidewinder
. Dennoch empfand Lion nach eigener Aussage ein zunehmendes Unverstandnis gegenuber neueren Stromungen im Jazz, das ihn letztlich dazu bewog, sich aus dem Musikbusiness zuruckzuziehen. Die letzte von ihm produzierte Blue-Note-Session fand (mit dem Tenorsaxophonisten
Stanley Turrentine
als Bandleader) am 18. Juli 1967 statt.
Schild am 2012 eroffneten Alfred-Lion-Steg (Berlin)
Wie kaum ein anderer Plattenproduzent vor oder nach ihm stand Lion den von ihm geforderten Kunstlern personlich nahe. Seine eigene
Vita
mag ihn darin bestarkt haben, dem in den USA der Jahrhundertmitte allgegenwartigen
Rassismus
die integrierende Kraft der Musik entgegenzusetzen. So grenzte es fur ein vergleichsweise respektables Unternehmen in der Musikbranche ans Skandalose, dass Lion die verantwortungsvolle Schlusselposition des
A&R
(Artist and Repertoire)-
Managers mit dem schwarzen Tenorsaxophonisten
Ike Quebec
besetzte. Dieser war daruber hinaus einer der engsten Freunde Lions, den der Tod des Musikers am 16. Januar 1963 in eine schwere personliche Krise sturzte. Die Anekdoten um Lions Verhalten bei Aufnahmen sind Legion, wobei der starke deutsche Akzent in seinem Englisch eine wesentliche Rolle spielt. Dies wird in der legendenfreudigen Jazzwelt insofern uberzogen, indem man Lion obendrein einen
jiddischen
Einschlag in seinem Sprechen andichtet, was bei ihm als deutsch-judischen Fluchtling nahezuliegen scheint, aber nur auf der Ahnlichkeit beider Sprachen beruht. Tatsachlich sprach Lion, wie die meisten modernen assimilierten Juden im Deutschland seiner Jugendzeit, so gut wie kein Jiddisch, sondern hatte, wenn uberhaupt, einen leichten Berliner Tonfall.
Nichtsdestoweniger ist Lions
Ceterum censeo
,
mit dem er seinen Kunstlern die Hauptqualitat eines guten Jazzstucks fur seine Ohren wieder und wieder nahelegte, bis auf den heutigen Tag ein Klassiker als
Schlagwort
, auch unter Musikern, die viel zu jung sind, um ihn selbst kennengelernt zu haben: ?It must schwing!“
Er war von 1942 bis 1947 mit Lorraine verheiratet, der spateren Ehefrau von
Max Gordon
und Leiterin des
Village Vanguard
.
Am 8. November 2012 wurde eine nach Alfred Lion benannte Fußgangerbrucke im Berliner
Bezirk Tempelhof-Schoneberg
eroffnet. Der
Alfred-Lion-Steg
verbindet die
Rote Insel
, von der Lion stammte, mit dem Norden
Tempelhofs
.
[4]
Bereits in einer ersten Werbebroschure publizierte Lion 1939 seine hochfliegenden Plane mit Blue Note, die umso visionarer wirken, wenn man bedenkt, dass Jazz zu dieser Zeit noch kaum als kunstlerisch relevante Musik akzeptiert wurde. Neben der Tatsache, dass Lion seinem Vorsatz durchaus treu geblieben ist, ist bemerkenswert, wie (trotz des an sich vollig korrekten Englisch) ?deutsch“ oder zumindest ?europaisch“ sein Gedankengang und seine Formulierung bleibt:
?Blue Note Records are designed simply to serve the uncompromising expressions of hot jazz or swing, in general. Any particular style of playing which represents an authentic way of musical feeling is genuine expression. By virtue of its significance in place, time and circumstance, it possesses its own tradition, artistic standards and audience that keeps it alive. Hot jazz, therefore, is expression and communication, a musical and social manifestation, and Blue Note records are concerned with identifying its impulse, not its sensational and commercial adornments.“
?(Blue Note setzt sich schlicht zum Ziel, den kompromißlosen Ausdrucksformen des
Hot Jazz
oder
Swing
allgemeines Gehor zu verschaffen. Jede besondere Spielweise, die ein authentisches musikalisches Gefuhl darstellt, ist echter Ausdruck. Durch ihre Bedeutung in Raum, Zeit und den Umstanden, denen sie entstammt, besitzt diese Musik eigene Tradition, kunstlerische Wertmaßstabe und ein Publikum, das sie lebendig halt. Daher bedeutet Hot Jazz Ausdruck und Kommunikation, eine musikalische und soziale Offenbarung, und Blue Note ist bestrebt, ihre eigentlichen Impulse aufzuzeigen anstelle marktschreierischer und kommerzialisierter Oberflachlichkeiten.)“
- Jazzinstitut Darmstadt
(Hrsg.):
That’s Jazz. Der Sound des 20. Jahrhunderts
. Ausstellungskatalog, Darmstadt 1988
- Richard Cook:
Blue Note. Die Biographie
. Argon Verlag, Berlin 2004,
ISBN 3-87024-599-9
.
- Richard Havers:
Blue Note ? The Finest in Jazz Since 1939
, Munchen 2014,
ISBN 978-3944874074
.
- David H. Rosenthal:
Hard Bop. Jazz and Black Music 1955?1965
. Oxford University Press, New York 1993,
ISBN 0195085566
.
- Hans Hielscher,
Plattenlabel Blue Note. Wie zwei deutsche Emigranten dem Jazz eine Heimat gaben
, in:
Spiegel online
, 3. Januar 2019
(online)
- ↑
Richard Havers:
Blue Note ? The Finest in Jazz
, S. 22. Nach Theresia Ziehe:
Talkin' about the Lion and the Wolff,
In: Dietrich Runger (Hrsg.)
Painted Jazz!: talking about Blue Note.
Bad Oeynhausen, Jazzprezzo, 2014, S. 48?56, heißt er jedoch laut Geburtsurkunde Lion und nicht Low.
- ↑
Sam Wooding an his Chocolate Kiddies in Germany.
Rainerjazz.com,
abgerufen am 19. September 2010
.
- ↑
Sam Wooding and his Orchestra 1925 (Photo)
(
Memento
vom 25. Juli 2018 im
Internet Archive
)
- ↑
Eroffnung Ost-West-Grunzug
auf Tagesspiegel.de. Abgerufen am 8. November 2012.
- ↑
Ein Film uber Freundschaft, Liebe und Jazz
, auf
NDR
-Online vom 28. Juni 2018.