Menenius Lanatus erzahlt sein Gleichnis (B. Barloccini, 1849)
Agrippa Menenius Lanatus
(auch
Menenius Agrippa
; * vor 540 v. Chr.; † 493 v. Chr.)
[1]
war ein sagenhafter Politiker und Konsul in der Fruhzeit der
romischen Republik
, der 494 v. Chr. durch eine
Parabel
die
Plebejer
angeblich zum Abbruch ihrer
ersten Sezession
bewog.
Agrippa Menenius Lanatus bekleidete 503 v. Chr. den
Consulat
.
[2]
Aus welchem Stand er stammt, ist nicht klar: Da der Consulat bis zu den
Leges Liciniae Sextiae
des Jahres 367 v. Chr. den
Patriziern
vorbehalten war, liegt es nahe, ihn diesem Stand zuzuordnen; nach
Titus Livius
war er dagegen ein
Plebejer
.
[3]
Nach Angaben von Livius und von
Dionysios von Halikarnassos
soll er einen
Triumph
uber die
Aurunker
gefeiert haben.
[4]
Agrippa Menenius soll in großer Armut gestorben sein, sodass der romische Staat die Kosten seiner Bestattung ubernahm. Dieser ebenfalls bei Livius und Dionysios uberlieferten Nachricht schenkt der Althistoriker
Hans Georg Gundel
keinen Glauben, es handele sich um ein ?
Exemplum
paupertatis“, ein von der moralischen Geschichtsschreibung der Antike herausgestrichenes Musterbeispiel lobenswerter Bescheidenheit.
[5]
Als im Rahmen der
Standekampfe
die Plebejer 494 v. Chr. aus der Stadt auf den
Aventin
oder den
Mons Sacer
zogen, um gegen ihre ungerechte Behandlung durch die Patrizier zu protestieren, schickte der
Senat
Agrippa aus, um sie zu uberzeugen, wieder zuruckzukehren. Dies soll ihm nach Livius,
Ab urbe condita
2,32,9, gelungen sein, indem er ihnen eine Parabel vortrug: Danach hatten die Glieder des Korpers ihre Tatigkeit eingestellt, um nicht immer nur dem faulen
Magen
dienen zu mussen. Dadurch hatten sie sich aber selbst geschwacht und so eingesehen, dass in einem gegliederten Ganzen wie dem Korper oder eben dem Staat jeder Teil eine fur das Ganze sinnvolle Funktion ausubt. Dies hatten die Plebejer eingesehen und ihre Sezession beendet.
Diese Geschichte wird von der althistorischen Forschung als
Legende
aus spaterer Zeit angesehen.
[6]
Nach dem britischen Althistoriker A. Drummond stammt sie nicht aus romischen, sondern aus
griechischen
literarischen oder philosophischen Quellen.
[7]
In Wahrheit brachen die Plebejer ihren Streik ab, weil die Patrizier ihnen zugestanden hatten, jahrlich zwei eigene Magistrate zu wahlen, die
Volkstribune
, die ein
Interzessionsrecht
gegen alle Entscheidungen des Senats und der ubrigen Magistrate haben sollten.
Die Fabel wurde breit rezipiert.
Dietmar Peil
fand in der Literatur mehr als 150 Versionen, Varianten, Bearbeitungen und Zitate dieser Fabel,
[8]
die sich in Ausgang und Deutung unterscheiden und teils im Zusammenhang mit Menenius Agrippa, teils auch ohne diesen gebracht werden.
So griff der
Apostel Paulus
im 1. Jahrhundert bei der Abfassung des
ersten Korintherbriefs
darauf zuruck, als er die Gemeinde als
Leib Christi
beschrieb, der aus vielen Teilen mit ganz unterschiedlichen Aufgaben zusammengesetzt sei (
1 Kor
12,12-30
Lut
).
[9]
Romische Historiker ubermitteln divergierende Fassungen, aber in stets identischem historischem Kontext: Mit der Fabel vom Streit des Glieder mit dem Magen, die seit der Antike als Beweis fur die Wirksamkeit rhetorischer Fertigkeiten gilt, gelingt es Agrippa, die plebs zur Ruckkehr in die Stadt zu bewegen.
[10]
Alle romischen Historiker erinnern aber auch an die politischen Zugestandnisse an die Plebejer.
[11]
Auch alle aus der Antike uberlieferten Versionen innerhalb von Fabelsammlungen liefern die
Moral
durch Wendung ins Politische, indem sie das Verhaltnis des Magens zu den Gliedern auf das der Obrigkeit zu den Untertanen ubertragen. Im Mittelalter verallgemeinern die Sammlungen, in denen verschiedene Varianten der Magen-Glieder-Fabel, die Moral zur gegenseitigen Abhangigkeit innerhalb der Gesellschaft
[12]
uber den im engeren politischen Sinn hinaus.
[13]
Zu Beginn der Neuzeit bringt
Erasmus Alberus
einen Neuansatz der Deutung der Agrippa-Fabel durch Politisierung: Der Vorwurf der okonomischen Ausbeutung wird abgewehrt durch die Aufforderung, die angeblich unentbehrliche Obrigkeit zu ehren und ihr zu gehorchen.
[14]
Dieser Wandel zu einem herrschaftsstabilisierenden Argument wird begunstigt durch die politische Einstellung der die Prinzipien der Reformation vertretenden Autoren, die Rom. 13,1 und 1. Petr. 2, 13 zum politischen Programm erheben und sich somit auf die Seite der Obrigkeit stellen.
[15]
So nutzt
Nathan Chytraus
die Magen-Glieder-Fabel als Appell zum Gehorsam und zur bereitwilligen Abgabenleistung.
[16]
Von
Georg Rollenhagen
wird sie 1595 im
Froschmeuseler
zum gleichsam antidemokratischen Argument gewendet: Diese Fabel zeige die Konsequenzen der staatsgefahrdenden Devise ?Jeder fur sich, got fur uns all“, die Rollenhagen vor allem in der Demokratie verbreitet sieht.
[17]
Der beruhmteste Fabeldichter der Neuzeit, der Franzose
Jean de La Fontaine
[18]
bringt eine eher okonomische Erkenntnis und begrundet den Eingangsvergleich mit der zentralen Funktion des koniglichen Hofes im Wirtschaftskreislauf.
[19]
Im 18. Jahrhundert, der Blutezeit der Fabel, wird der Streit der Glieder mit dem Magen meistens politisch gedeutet.
[20]
Daniel Wilhelm Triller
[21]
bringt eine neue Sicht des Problems: Im Rangstreit gebuhre den Leistungen des Magens die großte Anerkennung. Er formuliert die Moral aber nicht als einen an beide Parteien gerichteten Appell, sondern scheint sich primar an die Untertanen zu wenden, denen er mit dem Modalverb ?mussen“ die Dienstleistung als eine Pflicht auferlegt; die obrigkeitlichen Aufgaben erscheinen hingegen als eine bereits erfullte Voraussetzung. Trillers Version der Fabel legitimiert bestehende Herrschaftsverhaltnisse, immunisiert sie als gleichsam den Prinzipien der Natur entsprechend gegen mogliche Kritik.
[22]
Der Benediktiner Willibald Kobolt
[23]
vergleicht den Magen mit der ?Rent=Cammer“ eines Staates, in die alle ihren Beitrag zu entrichten haben und mit deren Mitteln der Furst fur das Wohl des Landes zu sorgen hat.
[24]
Die 1760 in Nurnberg erschienene illustrierte Sammlung ?Aesopi Leben und auserlesene Fabeln“ bringt auf S. 91 f.eine Prosafassung der Agrippa-Fabel und die Moral: ?Ehr deine Obrigkeit, und gieb, was ihr gebuhret, Weil sie dies schwehre Amt nur dir zum Nutzen fuhret.“
[25]
Im 19. Jahrhundert geht die Magen-Glieder-Fabel zu erzieherischen Zwecken in die Kinder- und Jugendliteratur ein.
[26]
Der 1821 in Nurnberg erschienene
Aesop fur Kinder
Johann Heinrich Ernestis
legt vor allem Wert auf die soziale Interdependenz.
[27]
Karl Heinrich Caspari
ordnet die Agrippa-Fabel dem 4. Gebot zu und betont und preist die Dienstbereitschaft.
[28]
William Shakespeare
ließ Menenius in seiner 1608 entstandenen
Tragodie
Coriolanus
(I/1) mit seiner Parabel einen Misserfolg erleben. Im 17. Jahrhundert dichtete
Jean de Lafontaine
die Geschichte zu einer seiner
Fabeln
um.
[29]
1936 bezeichnete der Philosoph
Ernst Bloch
die Parabel als ?eine der altesten Soziallugen“.
[30]
Die Geschichte wurde in Anknupfung an Shakespeare von
Bertolt Brecht
in seinem posthum hinterlassenen Dramenfragment
Coriolan von Shakespeare
und von
Gunter Grass
in seinem Drama
Die Plebejer proben den Aufstand
aus dem Jahr 1966 erneut auf die Buhne gebracht.
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Mikrokosmos. Beitrage zur Literaturwissenschaft und Bedeutungsforschung.
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Dietmar Peil:
Der Streit der Glieder mit dem Magen. Studien zur Uberlieferungs- und Deutungsgeschichte der Fabel des Menenius Agrippa von der Antike bis ins 20. Jahrhundert.
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Mikrokosmos. Beitrage zur Literaturwissenschaft und Bedeutungsforschung.
Band 16). Frankfurt am Main u. a. 1985, S. 106.
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Daniel Wilhelm Triller:
Neue Aesopische Fabeln, worinnen in gebundener Rede allerhand erbauliche Sittenlehren und nutzliche Lebensregeln vorgetragen werden.
1740, 2. Auflage. Hamburg 1850, S. 297?299.
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Dietmar Peil:
Der Streit der Glieder mit dem Magen. Studien zur Uberlieferungs- und Deutungsgeschichte der Fabel des Menenius Agrippa von der Antike bis ins 20. Jahrhundert.
(=
Mikrokosmos. Beitrage zur Literaturwissenschaft und Bedeutungsforschung.
Band 16). Frankfurt am Main u. a. 1985, S. 3 ff.
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Willibald Kobolt:
Schertz und Ernst beysammen, Das ist: Eine Abwechslung von hundert und achtzig kurtz- und curieusen Geschichten und Fabeln.
Augsburg 1747, S. 407 ff.
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Dietmar Peil:
Der Streit der Glieder mit dem Magen. Studien zur Uberlieferungs- und Deutungsgeschichte der Fabel des Menenius Agrippa von der Antike bis ins 20. Jahrhundert.
(=
Mikrokosmos. Beitrage zur Literaturwissenschaft und Bedeutungsforschung.
Band 16). Frankfurt am Main u. a. 1985, S. 108.
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Dietmar Peil:
Der Streit der Glieder mit dem Magen. Studien zur Uberlieferungs- und Deutungsgeschichte der Fabel des Menenius Agrippa von der Antike bis ins 20. Jahrhundert.
(=
Mikrokosmos. Beitrage zur Literaturwissenschaft und Bedeutungsforschung.
Band 16). Frankfurt am Main u. a. 1985, S. 109.
- ↑
Dietmar Peil:
Der Streit der Glieder mit dem Magen. Studien zur Uberlieferungs- und Deutungsgeschichte der Fabel des Menenius Agrippa von der Antike bis ins 20. Jahrhundert.
(=
Mikrokosmos. Beitrage zur Literaturwissenschaft und Bedeutungsforschung.
Band 16). Frankfurt am Main u. a. 1985, S. 115.
- ↑
Dietmar Peil:
Der Streit der Glieder mit dem Magen. Studien zur Uberlieferungs- und Deutungsgeschichte der Fabel des Menenius Agrippa von der Antike bis ins 20. Jahrhundert.
(=
Mikrokosmos. Beitrage zur Literaturwissenschaft und Bedeutungsforschung.
Band 16). Frankfurt am Main u. a. 1985, S. 116.
- ↑
Karl Heinrich Caspari
:
Geistliches und Weltliches zu einer volkstumlichen Auslegung des kleinen Katechismus Lutheri in Kirche, Schule und Haus.
Erlangen-Leipzig 15. Aufl. 1892 (zuerst 1853?). Dazu Dietmar Peil:
Der Streit der Glieder mit dem Magen. Studien zur Uberlieferungs- und Deutungsgeschichte der Fabel des Menenius Agrippa von der Antike bis ins 20. Jahrhundert.
(=
Mikrokosmos. Beitrage zur Literaturwissenschaft und Bedeutungsforschung.
Band 16). Frankfurt am Main u. a. 1985, S. 117 ff.
- ↑
Jean de Lafontaine:
Die Glieder und der Magen
. Deutsche Ubersetzung von 1923
auf
Zeno.org
, Zugriff am 27. Oktober 2012.
- ↑
Ernst Bloch:
Politische Messungen, Pestzeit, Vormarz
. Suhrkamp, Frankfurt am Main 1970, S. 172?176.