Eva Heyman
(geboren
13. Februar
1931
in
Oradea
(
ungarisch
Nagyvarad
; jiddisch und
deutsch
Großwardein
),
Rumanien
; gestorben
17. Oktober
1944
im
KZ Auschwitz-Birkenau
) war eine dreizehnjahrige ungarische Schulerin, die in der Zeit der Judenverfolgung in Ungarn kurze Zeit ein Tagebuch schrieb, bevor sie in das
KZ Auschwitz
deportiert
wurde und dort Opfer des
Holocaust
wurde.
[1]
Eva wuchs in Oradea auf, das in der infolge des
Ersten Weltkriegs
und der Gebietsveranderungen durch den
Vertrag von Trianon
seit 1919 zu
Rumanien
gehorte. Ihre Mutter Agnes Racz war seit 1933 geschieden, hatte erneut geheiratet und lebte mit Evas Stiefvater, dem Schriftsteller
Bela Zsolt
, in
Budapest
. Eva war bei den Eltern der Mutter in Oradea geblieben und ging dort zur Schule. Auch den Vater Bela Heyman, der Architekt war und auf der anderen Seite der Stadt wohnte, sah sie nur sporadisch. Im Haushalt der judischen Großeltern, die in der Stadt eine Apotheke betrieben, gab es eine ungarische Haushaltshilfe, Mariska Szabo, die nicht judisch war. 1942 wurde Bela Zsolt zur
Zwangsarbeit
eingezogen, doch Agnes konnte ihn aus der Zwangsarbeit auslosen. Als Anfang 1944 der Bombenkrieg Budapest erreichte, zogen beide ins vermeintlich sicherere Nagyvarad zu den Eltern und zur Tochter.
Nagyvarad war 1940 durch den
Zweiten Wiener Schiedsspruch
wieder ungarisch geworden. Bereits im Sommer 1941 gab es in Nagyvarad eine Deportation derjenigen Juden, die aus der Zeit vor 1919 keinen ungarischen Ausweis hatten oder in Rumanien staatenlos gewesen waren. Sie wurden von den Ungarn zusammen mit 14.000 staatenlosen Juden der
Karpatho-Ukraine
in die besetzte
Ukraine
getrieben und dort von den Deutschen im
Massaker von Kamenez-Podolsk
umgebracht, was nicht verheimlicht werden konnte. Eva erinnert sich in ihrem Tagebuch wiederholt an ihre Schulfreundin Marta, deren Familie zu diesen Deportierten gehorte, von der sie ahnt, nicht nur dass sie tot sei, sondern dass sie gewaltsam zu Tode gekommen sei.
Im Fruhjahr 1944 wurden die deutschen, rumanischen und ungarischen Truppen aus der
Sowjetunion
vertrieben und die deutsche
Wehrmacht
besetzte am 19. Marz 1944
Ungarn
. Damit kam es in Ungarn zu einer neuen Judenverfolgung, bei der das
Eichmann-Kommando
in Zusammenarbeit mit den ungarischen Behorden, der ungarischen Miliz und unter dem Wegschauen der ungarischen Bevolkerung vom 27. April 1944 bis zum 11. Juli 1944 nach Angaben des deutschen Botschafters
Edmund Veesenmayer
437.402 ungarische Juden in 147 Zugen aus der ungarischen Provinz nach Auschwitz deportierte.
Am 31. Marz 1944 kamen deutsche SS-Krafte nach Nagyvarad, beschlagnahmten das judische Krankenhaus der Stadt und erpressten vom Leiter der judischen Gemeinde Sandor Leitner die Abgabe verschiedener Guter. Am 6. April begann der Terror, als SS-Leute einzelne Hauser fur ihren Bedarf gewaltsam raumten. Am 18. April begannen auch Angehorige der ungarischen
Honved-Armee
, sich judischen Eigentums zu bedienen.
Am 30. April kam es in Nagyvarad zu einem Treffen des ungarischen Staatssekretars im Innenministerium
Laszlo Endre
(1895?1946), der kommunalen Administration und dem SS-Obersturmfuhrer
Theodor Dannecker
. Der Burgermeister Dr. Istvan Soos weigerte sich teilzunehmen und trat von seinem Amt zuruck.
[2]
Vom Stadtdirektor Laszlo Gyapay wurden am 3. Mai 1944 zwei Ghettos fur 27.000 und 8.000 Juden im Stadtgebiet angeordnet, die die judische Bevolkerung binnen funf Tagen beziehen musste. Es wurde ein
Judenrat
unter der Leitung von Leitner angeordnet, ein
judischer Ordnungsdienst
und eine Krankenstation. Der Gendarmerie-Oberstleutnant Jen? Peterffy leitete diese Maßnahmen und trug ab dem 10. Mai zur Verscharfung der desastrosen Situation bei, als er seiner Truppe aus Polizei und
Gendarmerie
Durchsuchungsaktionen nach Wertsachen befahl, die
Gendarmen
schreckten dabei vor Folterungen der Juden nicht zuruck. ?Dort wurden Juden entkleidet und mit Schlauchen geschlagen; Frauen wurden Stromkabel in den Uterus eingefuhrt, haufig vor den Augen ihrer Familienangehorigen.“
[3]
2.500 Manner wurden zu verscharfter Zwangsarbeit herangezogen.
[4]
In der Zwischenzeit war der Eisenbahntransport organisiert worden. Zwischen dem 24. Mai und dem 3. Juni wurden die Ghettos in Nagyvarad evakuiert und taglich 3.000 Juden mit der Eisenbahn ?nach dem Osten“ deportiert.
?Ich wurde dreizehn ? an einem Freitag den dreizehnten wurde ich geboren“. Eva beginnt das (veroffentlichte
[5]
) Tagebuch an ihrem dreizehnten Geburtstag, am Sonntag, dem 13. Februar 1944. Das Tagebuch registriert die bedrohliche Atmosphare im Februar, Mitte Marz, die deutsche Machtubernahme und den Regierungswechsel in Budapest in den Worten des Apothekers Rezs? Racz in der entfernten Provinzstadt, das Einschleichen der Gewalt und ihrer Schrecken, die Depossedierung im April. Eva gibt ungern ihr rotes Fahrrad, fur das die ganze Familie gespart hatte, aber sie behalt den großten Schatz, ihr Leben. Eva spekuliert, ob sie ihr Leben retten kann, wenn sie einem der Wachter einen Kuss zulasse.
[6]
Evas Großeltern mussen die Wohnung aufgeben und werden in ein vollig uberfulltes Judenhaus in der Szacsat Ut 20 gezwungen. Eva beschreibt den Umzug der Familie ins Ghetto. Sie beschreibt die dortige Not, den blanken Terror. Sie beschreibt die Angst um ihr Leben. Der letzte Eintrag ist von Anfang Juni 1944. Als sich die Haushaltshilfe Mariska ins Ghetto schleicht, um ein paar Lebensmittel fur die Familie zu bringen, erhalt sie das Tagebuch zur Verwahrung. Am 29. Mai wird ihnen angekundigt, dass sie ?in den Osten“ umgesiedelt werden.
[7]
Am 6. Juni 1944, dem Tag der
Invasion der Alliierten
in der Normandie, wurde Eva mit den Großeltern in einem der Viehwaggons nach Auschwitz deportiert. Wahrend die Großeltern dort sofort auf der Rampe fur die
Gaskammer
selektiert
wurden, wurde Eva Versuchsperson fur die
Menschenversuche
des KZ-Arztes
Josef Mengele
. Als ihre Fuße anschwollen, war sie auch als Versuchsperson ohne Wert und wurde vergast. Sie starb am 17. Oktober 1944 im Alter von dreizehn Jahren.
[8]
Uber das Schicksal von Evas Vater Bela Heyman ist nichts bekannt. Der Stiefvater Bela Zsolt hielt sich in den Tagen der Deportation als Kranker in der Krankenstation des Ghettos in Nagyvarad versteckt. Einige der Kranken, unter denen auch Evas Mutter Agnes Zsolt war, wurden nicht deportiert, sondern sie gerieten in die Gruppe von ca. 1670 ungarischen Juden, fur die
Rudolf Kasztner
versuchte, mit
Adolf Eichmann
eine andere Regelung auszuhandeln. Tatsachlich wurden sie Ende Juni 1944 in das
KZ Bergen-Belsen
transportiert und gelangten von dort Anfang Dezember 1944 in die
Schweiz
.
Bela Zsolt schrieb den autobiografischen Roman
Neun Koffer
uber seine Zeit in der Verfolgung, der 1946 veroffentlicht wurde. Er starb schwer erkrankt 1949 in Budapest, die Mutter Agnes erkrankte psychisch und starb 1951 in einem Sanatorium durch
Suizid
.
Das Vorwort zur hebraischen Ausgabe des Tagebuchs enthielt eine vorsichtige Einschatzung von Yehudah Marton, die auch in die englische Version ubernommen wurde: Das Tagebuch blieb 1944 in Oradea und kam nach
Kriegsende
wieder in die Hande der Mutter Agnes Zsolt,
[9]
die es mit nach Budapest nahm. Das Manuskript ist verschwunden. Das Tagebuch wurde wahrscheinlich redigiert: gekurzt und moglicherweise sprachlich uberarbeitet. Moglicherweise hat auch der Schriftsteller Zsolt lektoriert. Auf Grund der offenen Ausdrucksweise wurden moglicherweise kritische Bemerkungen uber den von der Tochter erahnten mehrfachen ?Verrat“ der Mutter und des Stiefvaters gestrichen.
Agnes Zsolt gab ihre Fassung 1947/1948 in Druck. Ubersetzungen erfolgten ins Hebraische 1964 und zunachst aus dem Hebraischen ins Englische 1974. Der rumanische Schriftsteller
Oliver Lustig
besorgte 1991 eine rumanische Ubersetzung. Eine Ubersetzung ins Deutsche erfolgte durch Erno Zeltner: Agnes Zsolt:
Das rote Fahrrad.
Nischen Verlag, Wien 2012.
[10]
Gergely Kunt legte 2010 eine neue Lesart vor, die den Text als einen literarischen Versuch der
Totenklage
der Mutter fur ihre Tochter befragt, die Antwort aber, da unlosbar, dem Leser uberlassen muss.
Der deutsche Jurist Christoph Gann, der 1999 eine Studie uber den Schweden und Budapester
Judenretter
Raoul Wallenberg
vorlegte und seit 1994 zu Wallenberg eine Wanderausstellung organisiert, lasst im Rahmen dieser Ausstellung selbst ubersetzte Ausschnitte des Tagebuchs lesen, zuletzt in Dortmund 2011 durch den Schauspieler
Claus Dieter Clausnitzer
.
1989 wurde von
Krisztina Deak
unter dem Titel
Eszterkonyv
(dt. ?Esters (Tage-)Buch“)
[11]
das Schicksal der Mutter verfilmt.
A piros bicikli
(dt. ?Das Rote Fahrrad“) ist eine ungarische Theaterproduktion, in dem neben Eva Heymans auch das Tagebuch der drei Jahre alteren Budapesterin Lilli Ecsery auf die Buhne gebracht wird, aus dem Jahr 2005.
- Eva Heyman, Agnes Zsolt:
Eva lanyom.
Budapest, Uj Id?k Irodalmi Intezet R.T. (Singer es Wolfner), 1948.
- Budapest : XXI. Szazad Kiado, 2011.
- Agnes Zsolt:
Das rote Fahrrad
, Aus dem Ungarischen von Erno Zeltner. Mit der Einleitung der Mutter und einem Nachwort von Gabor Muranyi, Wien : Nischen Verlag, 2012,
ISBN 978-3-9503345-0-0
.
- Yehudah Marton (Hrsg.):
Yomanah shel E?ah Haiman.
Yad Vashem, Jerusalem 1964. (hebraisch)
- ?The Hebrew version was published in 1964 in Jerusalem. Marton describes the history of the Oradea Jewry, its social and cultural characteristics, speaks about Eva's family and about the atmosphere in which the Diary was born, in a twelve page introduction for the Hebrew version. Additionally, he wrote explanatory notes to the text, to render in a concise manner ideas that are foreign to the Hebrew reader.“
- The diary of Eva Heyman
. Introduction and notes by Judah Marton. translated from Hebrew into English by Moshe M. Kohn. Yad Vashem, Jerusalem 1974.
- The Diary of Eva Heyman: Child of the Holocaust.
Shapolsky Publishers, New York 1987,
ISBN 0-933503-89-X
.
- Teilveroffentlichung des Tagebuchs in der Ubersetzung aus dem Ungarischen ins Englische von Susan Geroe bei
yizkor
- Oliver Lustig:
Jurnalul lui Eva Heyman. ?Am tr?it atit de pu?in.“
, 1991 (ro) (Ubersetzung von der ungarischen in die rumanische Sprache)
- Silviu Goran:
Eva Heyman.
ISBN 973-8953-95-6
(ro)
- Auszuge bei Jacob Boas:
We are witnesses. five diaries of teenagers who died in the Holocaust.
Henry Holt, New York 1995,
ISBN 0-8050-3702-0
.
- Jacob Boas in niederlandischer Ubersetzung:
Eva, Dawid, Moshe, Yitschak en Anne : oorlogsdagboeken van joodse kinderen.
- Jacob Boas in russischer Ubersetzung:
My svideteli : dnevniki pi?a?ti podrostkov, zhertv Kholokosta.
Optima, Kiew 2001,
ISBN 966-7869-05-9
.
- Auszuge bei Laurel Holliday:
Children in the Holocaust and World War II : their secret diaries.
Pocket Books, New York New York : Pocket Books, 1995. [
An anthology of twenty-three diaries written during the Holocaust by children, some of whom were later murdered by the Nazis
]
- Dezso Schon u. a.:
A tegnap varosa; a nagyvaradi zsidosag emlekkonyve. [Ir ve-etmol; sefer zikaron le-yehudei Grosswardein].
Tel-Aviv 1981.
- engl. von Susan Geroe:
The City of Yesterday: Memorial Book of the Jews of Nagyvarad (Oradea, Romania).
bei
yizkor
- Robert Rozett:
Oradea
. In:
Encyclopedia of the Holocaust
, Band III, 1990, S. 1088?1090.
- Nagyvarad.
In: Guy Miron (Hrsg.):
The Yad Vashem encyclopedia of the ghettos during the Holocaust.
Band 2. Jerusalem 2009,
ISBN 978-965-308-345-5
, S. 511?513.
- Wolfgang Benz
(Hrsg.):
Arbeitserziehungslager, Ghettos, Jugendschutzlager, Polizeihaftlager, Sonderlager, Zigeunerlager, Zwangsarbeiterlager. Geschichte der nationalsozialistischen Konzentrationslager.
Band 9. Beck, Munchen 2005,
ISBN 3-406-57238-3
.
- Randolph L. Braham
:
The politics of genocide. The Holocaust in Hungary.
Columbia University Press, New York 1981,
ISBN 0-231-05208-1
.
- ↑
Biographische Angaben zu
Eva Heyman
bei USHMM
- ↑
Lemma
Nagyvarad
, in: Guy Miron [Hrsg.]:
The Yad Vashem encyclopedia of the ghettos during the Holocaust
, Jerusalem 2009, S. 516?518.
- ↑
Wolfgang Benz:
Arbeitserziehungslager, Ghettos, Jugendschutzlager, Polizeihaftlager, Sonderlager, Zigeunerlager, Zwangsarbeiterlager
, S. 365.
- ↑
Encyclopedia of the Holocaust
, III, 1990, S. 1090.
- ↑
Im Text gebe es Hinweise, dass Eva schon vorher Tagebuch gefuhrt hat. Siehe
The diary of Eva Heyman. Introduction Translated by: Susan Geroe
bei yizkor
- ↑
Bela Zsolt beschreibt die wahre Dimension der sexuellen Notigung der jungen Frauen im Ghetto in ?Neun Koffer“
- ↑
Braham gibt abweichend hierzu an, dass die Deportationen am 24. Mai im Nebenghetto, am 27. Mai im Hauptghetto begannen und am 3. Juni endeten. Randolph L. Braham:
The politics of genocide. The Holocaust in Hungary.
, S. 579 ff, hier S. 583. Bei Braham wird eine Reihe von Namen der ungarischen Tater aufgefuhrt.
- ↑
Artikel
Eva Heyman
bei USHMM
- ↑
Herausgeberin des Tagesbuchs
Zsolt, Agnes 1912?1951
bei worldcat.
- ↑
The diary of Eva Heyman. Introduction Translated by: Susan Geroe
bei yizkor.
- ↑
Der Film
Eszterkonyv
wurde 1990 auf dem
Internationalen Filmfestival Mannheim-Heidelberg
gezeigt.