Regression
beschreibt innerhalb der
psychoanalytischen
Theorie einen psychischen
Abwehrmechanismus
, der der
Angstbewaltigung
dient. Dabei erfolgt ein zeitweiliger Ruckzug auf eine fruhere Stufe der
Personlichkeitsentwicklung
.
[1]
Regression ist ein Prozess, in dem das
Ich
aus Angst vor den
Triebwunschen
des
Es
oder den Forderungen des
Uber-Ich
bereits erworbene Positionen der Reife und der damit verbundenen Fahigkeiten aufgibt und sich auf fruhere Positionen zuruckzieht, die ?
Fixierungsstellen
“ genannt werden. Der Gegenspieler der Regression ist die
Progression
. Mit diesem Begriff wird ein Prozess beschrieben, in dem sich das
Ich
von unreiferen Positionen hin zu reiferen entwickelt und dabei Fahigkeiten erwirbt, die dabei helfen, Herausforderungen zu bewaltigen.
Wie alle Abwehrmechanismen lauft Regression uberwiegend
unbewusst
ab und dient der Stabilisierung des psychischen Gleichgewichts. In diesem Sinne ist sie nicht
dysfunktional
, sondern Teil der Fahigkeit zur
Selbststeuerung
.
Der Begriff der Regression wurde von
Sigmund Freud
in die psychoanalytische Praxis eingefuhrt
[2]
und war eng mit den von ihm beschriebenen
psychopathologischen
Erscheinungsformen und der psychosexuellen Entwicklung (wie
Libido
,
Triebtheorie
) verknupft. Der Begriff der Regression steht bei Freud fur die ?Neigung der Libido im Falle von
genitaler
Nichtbefriedigung oder realer Schwierigkeiten in die fruheren pragenitalen Besetzungen zuruckzukehren“.
[3]
Der Freud-Schuler
Kurt Lewin
merkt dazu an: ?Seine Theorie der Stufen der Libido-Organisation, die die Entwicklung des Individuums einteilt, beruht großtenteils auf Beobachtungen der Regression im Bereich der Psychopathologie“.
[2]
Anna Freud
beschreibt Regression in ihrem grundlegenden Werk
Das Ich und die Abwehrmechanismen
[4]
zusammen mit zehn weiteren Abwehrmechanismen, die allesamt in mehr oder minder sinnvoller bis
pathologischer
Weise der Verarbeitung innerer
Konflikte
dienen.
Der Psychoanalytiker
Michael Balint
wertet Regression erstmals auch als Bewaltigungsmechanismus, der einer
Selbstregulation
dienlich ist. Damit einhergehend wird die Beziehung von Patient und Therapeut mit ihren ?heilenden“ Aspekten ebenfalls deutlich hervorgehoben. Danach gilt Regression als ein therapeutisches Moment, in dem wesentliche Bestandteile der interaktiven Beziehung zwischen Patient und Therapeut Berucksichtigung finden.
[5]
So unterscheidet sich der Regressionsbegriff von Balint nicht nur inhaltlich von dem ursprunglich von Freud verwendeten Begriff, sondern kann auch therapierelevant angewendet werden.
Auch
Reinhart Lempp
versucht einen deutlich positiven Zugang zum Phanomen der Regression herzustellen: Er beschreibt Regression als beinahe alltagliches, oft nur kurz andauerndes Verhalten, das den Menschen vor den Zumutungen der Gegenwart und seinen Selbstzweifeln zeitweise schutzt und ihm Gelegenheiten des Durchatmens verschafft.
[6]
Philosoph
Peter Sloterdijk
pragte im Sommer 2021 den Begriff Regressionssystem, mit dem er ≪
sektenahnliche
Meinungsgenossenschaften≫ beschreibt, die laut ihm ≪miteinander
euphorische
Erfahrungen in der Annahme des gemeinsamen privilegierten Zugangs zur
Wahrheit
≫ machen und ≪im Verwechseln der eigenen Wunsche mit der Welt etwas
Kleinkindliches
≫ haben. Fur den Umgang mit solchen
Systemen
schlagt er vor: ≪Ich glaube, man muss heute uber
Aussteigerprogramme
fur Anhanger der
Querdenker
und anderer Regressionssysteme nachdenken≫
[7]
Michael Balint unterscheidet in seinem Buch
Therapeutische Aspekte der Regression
1968
[8]
zwei Formen der Regression:
- Maligne Regression ? ein Entwicklungsschritt wird nicht gemacht oder durch die Regression verhindert.
- Benigne Regression ? ermoglicht in der Therapie ein Erinnern an einst vorhandene Gefuhlszustande.
[9]
In einer extrem belastenden Zeit wird vorubergehend in einen umsorgten Zustand zuruckgekehrt.
Balint unterscheidet ebenso die benigne Progression von der malignen, bei der ein Entwicklungsschritt zu fruh gegangen wird.
[9]
[10]
Durch Ergebnisse der neueren Sauglingsforschung wird der Begriff der Regression, so wie ihn die traditionelle Psychoanalyse versteht, zunehmend kritisch gesehen. Die Kritik am Regressionsbegriff geht einher mit der Erweiterung des psychoanalytischen Entwicklungsmodells.
[11]
[12]
Die
Gestalttherapie
ubte schon fruh Kritik am Regressionsbegriff.
Fritz Perls
geht davon aus, dass ein Patient nicht auf ein fruheres Stadium seiner Entwicklung zuruckfallt, sondern nur eine andere Seite seiner Personlichkeit offenbart.
[13]
Die gegenwartige Gestalttherapie definiert Regression als ?(vorubergehende oder langer andauernde) Einschrankung in der aktuellen Moglichkeit eines Menschen, alle einmal erworbenen Kompetenzen seinem Wunsch entsprechend zu realisieren. Solche Einschrankungen konnen sowohl fruher als auch spater erworbene Kompetenzen betreffen.“
[14]
- Michael Balint
:
Angstlust und Regression; Beitrag zur psychologischen Typenlehre
(=
rororo-Studium
21
Psychoanalyse
) Rowohlt, Reinbek bei Hamburg 1972,
ISBN 3-499-21021-5
(Original:
Thrills and Regression
(=
The International Psycho-Analytical Library.
Nr. 54,
ZDB
-ID
1149075-5
). The Hogarth Press, London 1959).
- Michael Balint:
Therapeutische Aspekte der Regression. Die Theorie der Grundstorung.
Klett, Stuttgart 1970,
ISBN 3-12-900600-1
(Original:
The Basic Fault. Therapeutic Aspects of Regression.
Tavistock Publications, London 1968).
- Anna Freud
:
Das Ich und die Abwehrmechanismen
(=
Fischer
42001
Geist und Psyche
). Ungekurzte Ausgabe, 42.?43. Tausend. Fischer-Taschenbuch-Verlag, Frankfurt am Main 1997,
ISBN 3-596-42001-6
.
- Sigmund Freud
:
Abriss der Psychoanalyse. Einfuhrende Darstellungen.
(=
Fischer-Taschenbucher
10434
Psychologie
). 10., unveranderte Auflage. Fischer-Taschenbuch-Verlag, Frankfurt am Main 2004,
ISBN 3-596-10434-3
.
- Rolf Haubl
, Walter Molt, Gabriele Weidenfeller, Peter Wimmer:
Struktur und Dynamik der Person. Einfuhrung in die Personlichkeitspsychologie
(=
WV-Studium
135
Psychologie
). Westdeutscher Verlag, Opladen 1986,
ISBN 3-531-22135-3
.
- Reinhart Lempp
:
Das Kind im Menschen. Nebenrealitaten und Regression ? oder: Warum wir nie erwachsen werden.
Klett-Cotta, Stuttgart 2003,
ISBN 3-608-94062-6
.
- Kurt Lewin
:
Regression, Retrogression und Entwicklung (1941).
In:
Carl-Friedrich Graumann
(Hrsg.):
Kurt-Lewin-Werkausgabe.
Band 6:
Franz E. Weinert
, Horst Gundlach:
Psychologie der Entwicklung und Erziehung.
Klett-Cotta, Stuttgart 1982,
ISBN 3-12-935160-4
, S. 293?336.
- Wolfgang Loch
(Hrsg.):
Die Krankheitslehre der Psychoanalyse. Eine Einfuhrung.
Hirzel, Stuttgart 1967.
- Floyd L. Ruch,
Philip G. Zimbardo
:
Lehrbuch der Psychologie. Eine Einfuhrung fur Studenten der Psychologie, Medizin und Padagogik.
Springer, Berlin u. a. 1974,
ISBN 3-540-06549-0
.
- Cecile Loetz, Jakob Muller:
Regression. Das Kind in uns
. In:
Ratsel des Unbewußten
. Podcast zur Psychoanalyse und Psychotherapie (Folge 41).
- ↑
Ruch, Zimbardo:
Lehrbuch der Psychologie.
1974, S. 368.
- ↑
a
b
Kurt Lewin:
Regression, Retrogression und Entwicklung (1941).
In: Carl-Friedrich Graumann (Hrsg.):
Kurt-Lewin-Werkausgabe.
Band 6: Franz E. Weinert, Horst Gundlach:
Psychologie der Entwicklung und Erziehung.
1982, S. 293?336.
- ↑
Sigmund Freud:
Abriss der Psychoanalyse.
2004.
- ↑
Anna Freud:
Das Ich und die Abwehrmechanismen.
1997.
- ↑
Michael Balint:
Therapeutische Aspekte der Regression.
1970.
- ↑
Reinhart Lempp:
Das Kind im Menschen.
2003.
- ↑
Philosoph Sloterdijk: "Rausche des Irrsinns" bei Querdenkern
[1]
- ↑
Donald W. Winnicott:
Vom Spiel zur Kreativitat
. Klett-Cotta, 1993,
ISBN 978-3-608-95376-3
,
S.
67
(
eingeschrankte Vorschau
in der Google-Buchsuche).
- ↑
a
b
Wolfram Mauser, Joachim Pfeiffer:
Erinnern
. Konigshausen & Neumann, 2004,
ISBN 978-3-8260-2805-2
,
S.
214
(
eingeschrankte Vorschau
in der Google-Buchsuche).
- ↑
Dunja Voos:
Regression im Dienste des Ichs und Maligne Regression.
www.medizin-im-text.de
12. Juli 2015.
- ↑
Daniel Stern
:
Die Lebenserfahrung des Sauglings.
Klett-Cotta, Stuttgart 1992,
ISBN 3-608-95687-5
.
- ↑
Hilarion G. Petzold
(Hrsg.):
Psychotherapie und Babyforschung.
Band 2:
Die Kraft liebevoller Blicke. Sauglingsbeobachtungen revolutionieren die Psychotherapie
(=
Innovative Psychotherapie und Humanwissenschaften.
Bd. 56). Junfermann, Paderborn 1995,
ISBN 3-87387-122-X
.
- ↑
Frederick S. Perls
:
Das Ich, der Hunger und die Aggression. Die Anfange der Gestalttherapie.
Klett-Cotta, Stuttgart 1978,
ISBN 3-12-906450-8
, S. 250 f.
- ↑
Frank-M. Staemmler:
Zum Verstandnis regressiver Prozesse in der Gestalttherapie.
In:
Gestaltkritik.
Heft 1, 2000.