Hedwig Conrad-Martius
(*
27. Februar
1888
in
Berlin
; †
15. Februar
1966
in
Starnberg
) war eine
deutsche
Philosophin
.
Hedwig Conrad-Martius war die Tochter des Medizinprofessors
Friedrich Martius
und dessen Gattin Martha. Ihr Vater leitete die Universitatsklinik Rostock und war Begrunder der modernen
Konstitutionsforschung
. Nach dem Abitur bei
Helene Lange
, die in Berlin
Realgymnasiumskurse
fur Madchen eingerichtet hatte, begann Hedwig Martius als eine der ersten Frauen in Deutschland ein Universitatsstudium.
Zuerst studierte sie Literatur und Geschichte in Rostock
[1]
und Freiburg, dann ab 1909/10 Philosophie in Munchen bei
Moritz Geiger
. Im Wintersemester 1911/12 wechselte sie an die Universitat in Gottingen, wo sie in den Schulerkreis
Husserls
aufgenommen wurde. Ihr folgten spater
Edith Stein
und in Freiburg
Gerda Walther
.
Nach kurzer Zeit ubernahm sie die Leitung der neu gegrundeten ?Philosophischen Gesellschaft Gottingen“. Dieser Gruppe, die spater ?
Munchen-Gottinger-Phanomenologenschule
“ genannt wurde, gehorten neben
Theodor Conrad
, dem Begrunder der Philosophischen Gesellschaft und Neffen von
Theodor Lipps
, unter anderen
Winthrop Bell
,
Jean Hering
,
Fritz Kaufmann
,
Alexandre Koyre
,
Hans Lipps
,
Edith Stein
,
Dietrich von Hildebrand
und
Alfred von Sybel
an. Sie gewann einen Wettbewerb der Philosophischen Fakultat Gottingen. Wegen ihres Abiturs ohne Griechisch durfte sie mit dem erfolgreichen Beitrag in Gottingen nicht promoviert werden, daher wechselte sie nach Munchen zu
Alexander Pfander
. Eine
Habilitation
war dennoch unmoglich.
Nach der Promotion 1912 heiratete sie Theodor Conrad und zog mit ihm in seinen Heimatort
Bergzabern
, wo sie zusammen eine Obstplantage betrieben. Wahrend des Ersten Weltkrieges bildete sich um das Ehepaar der Conrads eine kleinere Gruppe, die sich inhaltlich an
Adolf Reinach
orientierte und sich bis zum Ende der 1920er Jahre regelmaßig im Haus der Conrads zusammenfand (daher ?
Bergzaberner Kreis
“). Husserl selbst hielt wenig von deren Leistungen. Erst 1937 zog das Paar nach Munchen.
Die wissenschaftliche Tatigkeit wurde zeitweise durch ein teilweises Publikationsverbot, das die Nationalsozialisten wegen eines judischen Großelternteils (Martha Leonhard)
[2]
verhangten, sehr erschwert.
Nach dem Zweiten Weltkrieg konnte sich Hedwig Conrad-Martius wieder der Philosophie widmen und wurde 1949 Dozentin fur
Naturphilosophie
und 1955 Honorarprofessorin in Munchen.
1958 wurde sie mit dem
Großen Bundesverdienstkreuz
ausgezeichnet.
[3]
Ein Teil ihrer Privatbibliothek befindet sich heute in der
Bayerischen Staatsbibliothek Munchen
.
[4]
Hedwig Conrad-Martius war der Ansicht, dass die spatere transzendental-idealistische Phanomenologie Husserls dem Phanomen des Realen nicht gerecht wird, und entwickelte eine eigene Theorie, die sie als ?Ontologische Phanomenologie“ bezeichnet.
Die von ihr entwickelte
Realontologie
ist auch das Fundament ihrer spateren Forschungen zur
Naturphilosophie
, ihrer
Kosmologie
sowie ihren Untersuchungen zu Zeit und Raum.
Der grundlegende Standpunkt ihrer ontologischen Phanomenologie:
Im Wahrnehmen der sich zeigenden Dinge (φαιν?μενον ? etwas, das sich zeigt ? Phanomen) erkennen wir sie.
Das Seinsproblem behandelt Hedwig Conrad-Martius in ihrem Werk ?Das Sein“ sowie in ihrer ?Realontologie“.
Conrad-Martius entwickelt ihre Darstellung der Natur in Auseinandersetzung mit den Naturwissenschaften ihrer Zeit, insbesondere der Physik und hier in der Einbeziehung der Ergebnisse der
Relativitatstheorie
und
Quantenmechanik
. Sie schreibt: ?
Der gekrummte Weltraum ist zwar endlich, aber unbegrenzt
“ und bestimmt das anhand der Analogie des dreidimensionalen Raumes und der zweidimensionalen Kugeloberflache, die nicht begrenzt, aber endlich ist. Damit muss aber auch der dreidimensionale Raum um eine Dimension erweitert gedacht werden. (nach Alexandra E. Pfeiffer,
Hedwig Conrad-Martius
, S. 117).
Es gibt nach Conrad-Martius drei mogliche Relationen von Zeit und Welt:
- Eine unendliche Zeit, innerhalb derer die Welt angefangen hat und mit der auch die Welt als unendlich und ohne Anfang gedacht werden kann ? dies entspricht der Ansicht der klassischen Naturwissenschaften
- Eine Welt, innerhalb deren Bestehens die Zeit begonnen hat ? dies ist ihrer Ansicht nach die Meinung Platons im
Timaios
(37 C-E).
- Eine ?endliche“
Raum-Zeit
, die mit einer ?endlichen“ Welt steht und fallt ? dies ist die Konzeption der
allgemeinen Relativitatstheorie
. Auch die vierdimensionale Raumzeitunion der Einsteinschen Welt wird im Modell einer zylindrischen Welt dargestellt.
Conrad-Martius folgert, dass auch die Zeit nur dadurch endlich werden kann, wenn sie als zyklisch mit sich selbst zusammengeschlossen gesehen wird, da eine ?geradlinige“ Zeit ins Unendliche verlauft. Als zyklische Zeit verwandelt sie sich zwar in eine endliche, aber unbegrenzte Zeit.
Im Unterschied zum Raum bewegt sich die Zeit jedoch, ihr Wesen grundet in seinsfundierender Bewegung ? wenn sie sich zyklisch bewegt, kann sie in unendlichem Zyklus weiterlaufen.
- Die erkenntnistheoretischen Grundlagen des Positivismus.
Bergzabern 1920.
- Metaphysische Gesprache.
Halle 1921.
- Realontologie.
In:
Jahrbuch fur Philosophie und Phanomenologische Forschung.
6, 1923, S. 159?333.
- Zur Ontologie und Erscheinungslehre der realen Außenwelt. Verbunden mit einer Kritik positivistischer Theorien.
In:
Jahrbuch fur Philosophie und phanomenologische Forschung.
3, 1916.
- Die ?Seele“ der Pflanze. Biologisch-ontologische Betrachtungen.
Breslau 1934.
- Physik und Metaphysik.
In:
Hochland.
37, 1940, S. 231?243.
- Abstammungslehre.
Munchen 1949 (Ursprunglich unter dem Titel ?Ursprung und Aufbau des lebendigen Kosmos“ erschienen, Kosmos 1938).
- Der Selbstaufbau der Natur. Entelechien und Energien.
Hamburg 1944.
- Bios und Psyche.
Hamburg 1949.
- Das Lebendige, Die Endlichkeit der Welt, Der Mensch.
Drei Dispute, Munchen 1951.
- Die Zeit.
Munchen 1954.
- Utopien der Menschenzuchtung. Der Sozialdarwinismus und seine Folgen.
Munchen 1955.
- Das Sein.
Munchen 1957.
- Der Raum.
Munchen 1958.
- Die Geistseele des Menschen.
Munchen 1960.
- Schriften zur Philosophie.
3 Bande. Im Einverstandnis mit der Verfasserin herausgegeben von Eberhard Ave-Lallemant. Munchen 1963?1965.
- ↑
Allerdings ist Hedwig Conrad-Martius in den entsprechenden Akten der Universitat Rostock weder als immatrikulierte Studentin noch als Horerin nachweisbar.
- ↑
Martius Familiengeschichte
- ↑
Die Nachlasse der Munchener Phanomenologen …
Band 10, Teil 1, S. 194 (
Google books
).
- ↑
Dagmar Jank:
Bibliotheken von Frauen: ein Lexikon
. Harrassowitz, Wiesbaden 2019 (Beitrage zum Buch- und Bibliothekswesen; 64),
ISBN 9783447112000
, S. 49.
- Ave-Lallemant, Eberhard:
Hedwig Conrad-Martius (1888?1966) ? Bibliographie
. In:
Zeitschrift fur philosophische Forschung
31:2, 1977, S. 301
- Falk, Georg:
Hedwig Conrad-Martius
. In:
Zeitschrift des Vereins Historisches Museum der Pfalz
(Historischer Verein der Pfalz), des Pfalzischen Vereins fur Naturkunde
Pollichia
[u. a.]. ? Kaiserslautern, J. 37, 1986, S. 87?89
- Festschrift fur Hedwig Conrad-Martius. Philosophisches Jahrbuch der Gorres-Gesellschaft
. Hrsg. von A. Wenzel [u. a.], Freiburg-Munchen: Karl Alber, 1958
- Gottschalk, Rudolph:
Hedwig Conrad-Martius: Abstammungslehre
(Book Review). In:
Deutsche Zeitschrift fur Philosophie
3:3, 1954, S. 732
- Hader, Alois:
Hedwig Conrad-Martius: Schriften zur Philosophie
Bd. I u. II (Book Review). In:
Philosophisches Jahrbuch
73:2, 1966, S. 403
- Hering, Jean:
Das Problem des Seins bei Hedwig Conrad-Martius
. In:
Zeitschrift fur philosophische Forschung
13, 1959, S. 463
- Pfeiffer, Alexandra Elisabeth:
Hedwig Conrad-Martius. Eine phanomenologische Sicht auf Natur und Welt
, Wurzburg 2005, Verlag Konigshausen und Neumann
- Prufer, Thomas:
Hedwig Conrad-Martius, Die Geistseele des Menschen
. In:
Philosophische Rundschau
11, 1963, S. 149
- Vetter, Helmuth:
Worterbuch der phanomenologischen Begriffe
, Hamburg 2005, Verlag Felix Meiner
- Conrad-Martius, Hedwig
, in:
Gudrun Wedel
:
Autobiographien von Frauen : ein Lexikon
. Koln : Bohlau, 2010, S. 157