Fichenskandal

aus Wikipedia, der freien Enzyklopadie
Zur Navigation springen Zur Suche springen
Staatsschutzfiche uber den Schriftsteller Max Frisch (PDF, 13 Seiten)
Ruckseite der Staatsschutzfiche der Nationalratin Menga Danuser . Fotografie des Originals im Schweizerischen Bundesarchiv

Der sogenannte Fichenskandal (auch Fichenaffare ) ist ein Skandal der neueren Schweizer Geschichte in der Endphase des Kalten Krieges . Davon abgeleitet hat sich in der Schweiz das Wort ?Fichenstaat“ als Umschreibung fur einen ?Schnuffelstaat“ gebildet. Etwa 900'000 Staatsschutz- Fichen wurden zwischen 1900 und 1990 angelegt, sie befinden sich heute im Bundesarchiv . Bei dem Skandal wurde aufgedeckt, dass Bundes- und Kantonalbehorde Informationen uber Burger im Geheimen sammelten.

Am 12. Januar 1989 trat Bundesratin Elisabeth Kopp zuruck, weil sie das Vertrauen ihrer Kollegen in der Landesregierung und in ihrer Partei, der FDP , verloren hatte. Die Justizministerin, die gegen Geldwascherei und organisiertes Verbrechen kampfte, war verheiratet mit dem umstrittenen Wirtschaftsanwalt Hans W. Kopp , der mit seinen intransparenten internationalen Geschaftsbeziehungen in Verdacht stand, heimlich genau das zu praktizieren, was seine Frau offiziell bekampfte: ?Musterland und Schurkenstaat teilten Tisch und Bett.“ [1] Elisabeth Kopp hatte ihrem Ehemann Ende Oktober 1988 telefonisch empfohlen, aus dem Verwaltungsrat der libanesischen Shakarchi Trading AG zuruckzutreten, gegen die Ermittlungen der Bundesanwaltschaft liefen; sie hatte dieses Telefonat aber gegenuber dem Bundesrat und ihrer Partei verschwiegen.

Dieser ? Fall Kopp “ erregte den Verdacht, dass das schweizerische Regierungssystem von der internationalen Finanzunterwelt unterwandert war. Deshalb beschloss die Bundesversammlung am 31. Januar 1989, eine Parlamentarische Untersuchungskommission (PUK) unter dem Vorsitz des damaligen Nationalrats und spateren Bundesrats Moritz Leuenberger einzusetzen. Die PUK sollte gemass ihrem Auftrag die Amtsfuhrung des EJPD und insbesondere der Bundesanwaltschaft untersuchen, ?vor allem zur Klarung der im Zusammenhang mit der Amtsfuhrung und dem Rucktritt der Departementsvorsteherin erhobenen Vorwurfe“, und das Vorgehen der Bundesbehorden und Bundesstellen bei der Bekampfung der Geldwascherei und des internationalen Drogenhandels abklaren. [2] Sie kam aber nach wenig ergiebigen Untersuchungen bei einem Augenschein in der Bundesanwaltschaft, angeblich zufallig, in einen ?irrsinnig grossen Raum“, der sich als ?veritable Dunkelkammer der Nation“ erwies. Das Kapitel uber die Fichen, die seit 1988 bekannt waren, aber von den Geschaftsprufungskommissionen (GPK) nicht untersucht werden konnten, erwies sich schliesslich als die einzige Sensation des PUK-Berichts. [1]

Ruckseite einer Karteikarte eines fichierten Burgers aufgrund des Besuchs von Ostblockstaaten . Eine Fotokopie der Fichenruckseite, wie sie kurz nach dem Skandal nach Auskunftsanfragen zugeschickt wurden.

In den spaten 1980er Jahren war nach und nach ans Licht gekommen, dass die Bundesbehorden und auch die kantonalen Polizeibehorden seit 1900 rund 900'000 Fichen angelegt hatten. [3] Laut offiziellen Archiven waren mehr als 700'000 Personen und Organisationen erfasst. Die Beobachtungsaktivitaten erfassten zuerst auslandische Anarchisten , Schweizer Sozialisten und Gewerkschafter, unwillkommene politische Fluchtlinge und Auslander, die ausgewiesen wurden. Einige Dossiers aus den 1930er- und 40er-Jahren befassen sich mit Nationalsozialisten und faschistischen Bewegungen. Mit dem Aufkommen des Antikommunismus wurden vor allem linksstehende Politiker der neuen Linke und Mitglieder von Gewerkschaften uberwacht. Offizielles Ziel der Fichierung war es, das Land vor aus dem Ausland gesteuerten subversiven Aktivitaten zur Destabilisierung des Systems und nachfolgender Errichtung einer totalitaren ( kommunistischen ) Diktatur zu schutzen.

Als Vorganger dieser staatlichen Uberwachungstatigkeit hatte der Zurcher FDP -Politiker Ernst Cincera eine eigene Kartei angelegt, welche von privater Seite etwa im Zusammenhang mit Stellenbewerbungen konsultiert werden konnte.

Bericht der Parlamentarischen Untersuchungskommission (PUK) vom 22. November 1989 Vorkommnisse im EJPD , sowie Erganzungsbericht vom 29. Mai 1990

Die Aufdeckung des Fichenskandals mit dem Bericht im November 1989 bewegte die schweizerische Offentlichkeit stark. Das Vertrauen vieler Burger in den Staat war erschuttert. Zahlreiche Burger reichten Gesuche ein, um die Herausgabe der personlichen Fichen zu erreichen. Sie erhielten schliesslich Kopien ihrer Fichen, auf denen die Namen von Drittpersonen abgedeckt wurden, um die Identitat der Informanten geheim zu halten. Am 3. Marz 1990 demonstrierten 30'000 Personen in Bern. [4]

Bekampfung der Subversion war wahrend des Kalten Krieges ein weitverbreitetes Schlagwort. Die PUK brachte zu Tage, wie weit dieser schwammige Begriff aufgefasst wurde. Wie aus den Unterlagen der Untergruppe Nachrichtendienst und Abwehr (UNA) hervorging, empfanden eifrige Staatsschutzer ?Linke“, ?Alternative“, ?Grune“, Friedensbewegte, Drittwelt-Aktivisten, Frauenbewegungen, Fremdarbeiterbetreuer, Anti-AKW-Bewegungen und religiose Gruppierungen als potentiell gefahrlich, denn sie konnten unterwandert, feindgesteuert oder manipuliert sein. Vor allem erwiesen sich die Ficheneintrage als ?zum Teil ausserst unsystematisch und zufallig“ (PUK), weil den Beamten ein einheitliches Bedrohungsbild fehlte und keinerlei konkrete Weisungen uber die Erfullung dieses heiklen praventiven Staatsschutzauftrages bestanden. [5]

Im Zusammenhang mit den Nachforschungen zur Kopp- und Fichen-Affare wurden auch Hinweise auf weitere Auffalligkeiten gefunden. So wurde ein Bericht uber die Geheimorganisationen P-26 und P-27 erstellt, dessen Inhalt aber teilweise bis heute der Offentlichkeit vorenthalten wird. Unklarheiten bestehen nach wie vor auch bezuglich der Registrierung von ? Zigeunern “. Dass ein entsprechendes Archiv angelegt wurde, wird heute nicht mehr bestritten. Da jedoch bisher samtliche Recherchen von Historikern (z. B. im Rahmen der sog. Bergier-Kommission , der unabhangigen Expertenkommission, die die Geschichte der Schweiz wahrend des Zweiten Weltkriegs aufbereitete) nur Einzelbelege in verstreuten Archivbestanden zutage fordern konnten und die Behorden sich zu diesem Thema ausschweigen, bleibt unklar, ob diese Registratur vernichtet wurde oder nach wie vor in Gebrauch ist.

Audi

Einzelnachweise

[ Bearbeiten | Quelltext bearbeiten ]
  1. a b Jakob Tanner: Geschichte der Schweiz im 20. Jahrhundert . Verlag C.H. Beck, Munchen 2015.
  2. Bericht der Parlamentarischen Untersuchungskommission (PUK): Vorkommnisse im EJPD. 22. November 1989, abgerufen am 17. April 2023 .
  3. Staatsschutzfichen und -dossiers: Einsichtsverfahren und praktische Hinweise
  4. ≪Sie ruckten unsere Tatigkeit in die Nahe der Stasi≫. In: Tagesanzeiger. 17. November 2014. Auf Tagesanzeiger.ch, abgerufen am 30. August 2022.
  5. Martin Matter: P-26 ? Die Geheimarmee, die keine war. Wie Politik und Medien die Vorbereitung des Widerstandes skandalisierten. hier + jetzt, Verlag fur Kultur und Geschichte, Baden 2012, ISBN 978-3-03919-247-2 , S. 263 f.
  6. Inhaltsverzeichnis