Der sogenannte
Fichenskandal
(auch
Fichenaffare
) ist ein Skandal der neueren
Schweizer Geschichte
in der Endphase des
Kalten Krieges
. Davon abgeleitet hat sich in der Schweiz das Wort ?Fichenstaat“ als Umschreibung fur einen ?Schnuffelstaat“ gebildet. Etwa 900'000 Staatsschutz-
Fichen
wurden zwischen 1900 und 1990 angelegt, sie befinden sich heute im
Bundesarchiv
. Bei dem Skandal wurde aufgedeckt, dass Bundes- und Kantonalbehorde Informationen uber Burger im Geheimen sammelten.
Am 12. Januar 1989 trat Bundesratin
Elisabeth Kopp
zuruck, weil sie das Vertrauen ihrer Kollegen in der Landesregierung und in ihrer Partei, der
FDP
, verloren hatte. Die Justizministerin, die gegen Geldwascherei und organisiertes Verbrechen kampfte, war verheiratet mit dem umstrittenen Wirtschaftsanwalt
Hans W. Kopp
, der mit seinen intransparenten internationalen Geschaftsbeziehungen in Verdacht stand, heimlich genau das zu praktizieren, was seine Frau offiziell bekampfte: ?Musterland und Schurkenstaat teilten Tisch und Bett.“
[1]
Elisabeth Kopp hatte ihrem Ehemann Ende Oktober 1988 telefonisch empfohlen, aus dem Verwaltungsrat der libanesischen Shakarchi Trading AG zuruckzutreten, gegen die Ermittlungen der Bundesanwaltschaft liefen; sie hatte dieses Telefonat aber gegenuber dem Bundesrat und ihrer Partei verschwiegen.
Dieser ?
Fall Kopp
“ erregte den Verdacht, dass das schweizerische Regierungssystem von der internationalen Finanzunterwelt unterwandert war. Deshalb beschloss die
Bundesversammlung
am 31. Januar 1989, eine
Parlamentarische Untersuchungskommission
(PUK) unter dem Vorsitz des damaligen
Nationalrats
und spateren Bundesrats
Moritz Leuenberger
einzusetzen. Die PUK sollte gemass ihrem Auftrag die Amtsfuhrung des
EJPD
und insbesondere der
Bundesanwaltschaft
untersuchen, ?vor allem zur Klarung der im Zusammenhang mit der Amtsfuhrung und dem Rucktritt der Departementsvorsteherin erhobenen Vorwurfe“, und das Vorgehen der Bundesbehorden und Bundesstellen bei der Bekampfung der Geldwascherei und des internationalen Drogenhandels abklaren.
[2]
Sie kam aber nach wenig ergiebigen Untersuchungen bei einem Augenschein in der Bundesanwaltschaft, angeblich zufallig, in einen ?irrsinnig grossen Raum“, der sich als ?veritable Dunkelkammer der Nation“ erwies. Das Kapitel uber die Fichen, die seit 1988 bekannt waren, aber von den
Geschaftsprufungskommissionen
(GPK) nicht untersucht werden konnten, erwies sich schliesslich als die einzige Sensation des PUK-Berichts.
[1]
In den spaten 1980er Jahren war nach und nach ans Licht gekommen, dass die Bundesbehorden und auch die
kantonalen Polizeibehorden
seit 1900 rund 900'000 Fichen angelegt hatten.
[3]
Laut offiziellen Archiven waren mehr als 700'000 Personen und Organisationen erfasst. Die Beobachtungsaktivitaten erfassten zuerst auslandische
Anarchisten
, Schweizer Sozialisten und Gewerkschafter, unwillkommene politische Fluchtlinge und Auslander, die ausgewiesen wurden. Einige Dossiers aus den 1930er- und 40er-Jahren befassen sich mit Nationalsozialisten und faschistischen Bewegungen. Mit dem Aufkommen des
Antikommunismus
wurden vor allem linksstehende
Politiker
der
neuen Linke
und Mitglieder von
Gewerkschaften
uberwacht. Offizielles Ziel der Fichierung war es, das Land vor aus dem Ausland gesteuerten
subversiven
Aktivitaten zur Destabilisierung des Systems und nachfolgender Errichtung einer
totalitaren
(
kommunistischen
)
Diktatur
zu schutzen.
Als Vorganger dieser staatlichen Uberwachungstatigkeit hatte der
Zurcher
FDP
-Politiker
Ernst Cincera
eine eigene Kartei angelegt, welche von privater Seite etwa im Zusammenhang mit Stellenbewerbungen konsultiert werden konnte.
Die Aufdeckung des Fichenskandals mit dem Bericht im November 1989 bewegte die schweizerische Offentlichkeit stark. Das Vertrauen vieler Burger in den Staat war erschuttert. Zahlreiche Burger reichten Gesuche ein, um die Herausgabe der personlichen Fichen zu erreichen. Sie erhielten schliesslich Kopien ihrer Fichen, auf denen die Namen von Drittpersonen abgedeckt wurden, um die Identitat der
Informanten
geheim zu halten. Am 3. Marz 1990 demonstrierten 30'000 Personen in Bern.
[4]
Bekampfung der
Subversion
war wahrend des
Kalten Krieges
ein weitverbreitetes Schlagwort. Die PUK brachte zu Tage, wie weit dieser schwammige Begriff aufgefasst wurde. Wie aus den Unterlagen der
Untergruppe Nachrichtendienst und Abwehr
(UNA) hervorging, empfanden eifrige Staatsschutzer ?Linke“, ?Alternative“, ?Grune“, Friedensbewegte, Drittwelt-Aktivisten, Frauenbewegungen, Fremdarbeiterbetreuer, Anti-AKW-Bewegungen und religiose Gruppierungen als potentiell gefahrlich, denn sie konnten unterwandert, feindgesteuert oder manipuliert sein. Vor allem erwiesen sich die Ficheneintrage als ?zum Teil ausserst unsystematisch und zufallig“ (PUK), weil den Beamten ein einheitliches Bedrohungsbild fehlte und keinerlei konkrete Weisungen uber die Erfullung dieses heiklen praventiven Staatsschutzauftrages bestanden.
[5]
Im Zusammenhang mit den Nachforschungen zur Kopp- und Fichen-Affare wurden auch Hinweise auf weitere Auffalligkeiten gefunden. So wurde ein Bericht uber die Geheimorganisationen
P-26
und
P-27
erstellt, dessen Inhalt aber teilweise bis heute der Offentlichkeit vorenthalten wird. Unklarheiten bestehen nach wie vor auch bezuglich der Registrierung von ?
Zigeunern
“. Dass ein entsprechendes Archiv angelegt wurde, wird heute nicht mehr bestritten. Da jedoch bisher samtliche Recherchen von Historikern (z. B. im Rahmen der sog.
Bergier-Kommission
, der unabhangigen Expertenkommission, die die
Geschichte der Schweiz
wahrend des
Zweiten Weltkriegs
aufbereitete) nur Einzelbelege in verstreuten Archivbestanden zutage fordern konnten und die Behorden sich zu diesem Thema ausschweigen, bleibt unklar, ob diese Registratur vernichtet wurde oder nach wie vor in Gebrauch ist.
- Schweiz. Parlamentarische Untersuchungskommission (EJPD):
Bericht der Parlamentarischen Untersuchungskommission (PUK) vom 22. November 1989: Vorkommnisse im EJPD.
(PDF; 8,4 MB) Bern 1989.
- Schweiz. Parlamentarische Untersuchungskommission (EJPD):
Erganzungsbericht der Parlamentarischen Untersuchungskommission (PUK) vom 29. Mai 1990: Vorkommnisse im EJPD.
(PDF; 1,5 MB) Bern 1990.
- Urs Paul Engeler
:
Grosser Bruder Schweiz. Wie aus wilden Demokraten uberwachte Burger wurden. Die Geschichte der politischen Polizei.
Weltwoche-ABC-Verlag, Zurich 1990,
ISBN 3-85504-128-8
.
- Jurg Frischknecht
,
Liliane Studer
(Red.):
Schnuffelstaat Schweiz. Hundert Jahre sind genug.
Herausgegeben vom Komitee Schluss mit dem Schnuffelstaat. Limmat-Verlag, Zurich 1990,
ISBN 3-85791-170-0
.
- Georg Sonderegger
,
Christian Dutschler
:
Ein PUK-Bericht erschuttert die Schweiz. Der Fichenskandal.
In: Heinz Looser, Christian Kolbe, Roland Schaller, Sandra Brutschin, Gregor Sonderegger, Christian Dutschler, Simona Gambini (Hrsg.):
Die Schweiz und ihre Skandale.
Limmat-Verlag, Zurich 1995,
ISBN 3-85791-236-7
, 209?218.
- Thomas Huonker
,
Regula Ludi
:
Roma, Sinti und Jenische. Schweizerische Zigeunerpolitik zur Zeit des Nationalsozialismus. Beitrag zur Forschung
(=
Veroffentlichungen der Unabhangigen Expertenkommission Schweiz ? Zweiter Weltkrieg.
Bd. 23). Herausgegeben von der Unabhangigen Expertenkommission Schweiz ? Zweiter Weltkrieg. Chronos-Verlag, Zurich 2001,
ISBN 3-0340-0623-3
(
Unveranderte Ausgabe des publizierten Beihefts zum Fluchtlingsbericht von 1999
).
- Georg Kreis
u. a.:
Staatsschutz in der Schweiz. Die Entwicklung von 1935?1990. Eine multidisziplinare Untersuchung im Auftrage des schweizerischen Bundesrates.
Verlag Paul Haupt, Bern 1993.
[6]
- Georg Kreis:
Staatsschutz.
In:
Historisches Lexikon der Schweiz
.
- Max Frisch
:
Ignoranz als Staatsschutz?
, verfasst 1990, hrsg. von David Gugerli und Hannes Mangold, Suhrkamp, Berlin 2015,
ISBN 978-3-518-42490-2
; Auszuge unter dem Titel
Die Akte F. ? Max Frisch uber seine Fiche und den Schweizer Staatsschutz.
In:
NZZ-Geschichte.
(Magazin), Nr. 3, Oktober 2015, mit Kommentar von David Gugerli und Hannes Mangold.
- Daniel de Roulet
:
Double. Ein Bericht
(1998) uber Peter Gasser, ein Opfer des Fichenskandals
- Peter Gross
beschreibt im Buch ?Einmal Ku‘damm und zuruck“, Berlin 2016
ISBN 978-3-7418-3926-9
wie er ein Opfer des Fichenskandals wurde.
- Anton Kohler:
Die Basler Fichenaffare oder die verhinderte Diskussion uber den Staatsschutz in der Demokratie
. In:
Basler Stadtbuch 1991, S. 67?71
.
- Audi
- ↑
a
b
Jakob Tanner:
Geschichte der Schweiz im 20. Jahrhundert
. Verlag C.H. Beck, Munchen 2015.
- ↑
Bericht der Parlamentarischen Untersuchungskommission (PUK):
Vorkommnisse im EJPD.
22. November 1989,
abgerufen am 17. April 2023
.
- ↑
Staatsschutzfichen und -dossiers: Einsichtsverfahren und praktische Hinweise
- ↑
≪Sie ruckten unsere Tatigkeit in die Nahe der Stasi≫.
In:
Tagesanzeiger.
17. November 2014. Auf Tagesanzeiger.ch, abgerufen am 30. August 2022.
- ↑
Martin Matter:
P-26 ? Die Geheimarmee, die keine war. Wie Politik und Medien die Vorbereitung des Widerstandes skandalisierten.
hier + jetzt, Verlag fur Kultur und Geschichte, Baden 2012,
ISBN 978-3-03919-247-2
, S. 263 f.
- ↑
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