Eine
Differentialgleichung
(auch
Differenzialgleichung
, oft durch
DGL
,
DG
,
DGl.
oder
Dgl.
abgekurzt) ist eine mathematische
Gleichung
fur eine gesuchte
Funktion
von einer oder mehreren Variablen, in der auch
Ableitungen
dieser Funktion vorkommen. Viele
Naturgesetze
konnen mittels Differentialgleichungen formuliert werden. Differentialgleichungen sind daher ein wesentliches Werkzeug der
mathematischen Modellierung
. Dabei beschreibt eine Differentialgleichung das Anderungsverhalten dieser Großen zueinander. Differentialgleichungen sind ein wichtiger Untersuchungsgegenstand der
Analysis
, die deren Losungstheorie untersucht. Nicht nur weil fur viele Differentialgleichungen keine explizite Losungsdarstellung moglich ist, spielt die
naherungsweise Losung
mittels
numerischer Verfahren
eine wesentliche Rolle. Eine Differentialgleichung kann durch ein
Richtungsfeld
veranschaulicht werden.
Man unterscheidet verschiedene Typen von Differentialgleichungen. Ganz grob unterteilen sie sich in die folgenden Teilgebiete. Alle der folgenden Typen konnen im Wesentlichen unabhangig und gleichzeitig nebeneinander auftreten.
Hangt die gesuchte Funktion lediglich von einer Variablen ab, so spricht man von einer gewohnlichen Differentialgleichung. Es kommen lediglich gewohnliche Ableitungen nach der einen Veranderlichen vor.
Beispiele:
Schreibt sich die gewohnliche Differentialgleichung fur die gesuchte Funktion
in der Form
so heißt die gewohnliche Differentialgleichung
implizit
.
Ist die Differentialgleichung nach der hochsten Ableitung aufgelost, d. h., es gilt
so nennt man die gewohnliche Differentialgleichung
explizit
. Nicht jede Differentialgleichung, die in impliziter Form vorliegt, kann auf eine explizite Form gebracht werden. In den Anwendungen sind explizite gewohnliche Differentialgleichungen mathematisch einfacher zu verarbeiten. Die hochste vorkommende Ableitungsordnung
wird
Ordnung der Differentialgleichung
genannt. Beispielsweise hat eine explizite gewohnliche Differentialgleichung 1. Ordnung die Gestalt
Es gibt eine abgeschlossene Losungstheorie expliziter gewohnlicher Differentialgleichungen.
Eine gewohnliche Differentialgleichung ist
linear
, falls sie linear in der Funktion und ihren Ableitungen ist:
Sie ist
semilinear
, falls sie zwar in den Ableitungen und der Funktion auf der linken Seite linear ist, die Funktion
aber auch von der Funktion
und ihren Ableitungen abhangen kann, außer der hochsten Ableitung:
[1]
Hangt die gesuchte Funktion von mehreren Variablen ab und treten in der Gleichung
partielle Ableitungen
nach mehr als einer Variable auf, so spricht man von einer partiellen Differentialgleichung. Partielle Differentialgleichungen sind ein großes Feld und die Theorie ist mathematisch nicht abgeschlossen, sondern Gegenstand der aktuellen Forschung in mehreren Gebieten.
Ein Beispiel ist die sog.
Warmeleitungsgleichung
fur eine Funktion
Man unterscheidet verschiedene Typen partieller Differentialgleichungen. Zunachst gibt es
lineare partielle Differentialgleichungen
. Dabei gehen die gesuchte Funktion und ihre Ableitungen
linear
in die Gleichung ein. Die Abhangigkeit bezuglich der unabhangigen Variablen kann dabei durchaus nichtlinear sein. Die Theorie linearer partieller Differentialgleichungen ist am weitesten fortgeschritten, jedoch weit davon entfernt, abgeschlossen zu sein.
Man spricht von einer
quasilinearen
Gleichung, falls alle Ableitungen von hochster Ordnung linear auftreten, dies aber nicht mehr fur die Funktion und Ableitungen niedrigerer Ordnung gilt. Eine quasilineare Gleichung ist schon schwieriger zu behandeln. Eine quasilineare partielle Differentialgleichung ist
semilinear
, falls die Koeffizientenfunktion vor den hochsten Ableitungen nicht von niedrigeren Ableitungen und der unbekannten Funktion abhangt. Gerade im Gebiet der quasi- und semilinearen Gleichungen werden zurzeit die meisten Resultate erzielt.
Kann man schließlich auch keine lineare Abhangigkeit bezuglich der hochsten Ableitungen feststellen, nennt man die Gleichung eine
nichtlineare partielle Differentialgleichung
oder eine
vollstandig-nichtlineare partielle Differentialgleichung
.
Besonders interessant in dem Gebiet partieller Differentialgleichungen sind die Gleichungen zweiter Ordnung. In diesen Spezialfallen gibt es noch weitere Klassifikationsmoglichkeiten.
Beim Typus der
stochastischen Differentialgleichungen
treten in der Gleichung
stochastische Prozesse
auf. Eigentlich sind stochastische Differentialgleichungen keine Differentialgleichungen im obigen Sinne, sondern lediglich gewisse Differentialrelationen, welche als Differentialgleichung interpretiert werden konnen.
Der Typus der
Algebro-Differentialgleichungen
zeichnet sich dadurch aus, dass zusatzlich zur Differentialgleichung auch noch algebraische Relationen als
Nebenbedingungen
gegeben sind.
Weiter gibt es noch sogenannte
retardierte Differentialgleichungen
. Hier treten neben einer Funktion und ihren Ableitungen zu einem Zeitpunkt
auch noch Funktionswerte bzw. Ableitungen aus der Vergangenheit auf.
Unter einer
Integro-Differentialgleichung
versteht man eine Gleichung, in der nicht nur die Funktion und deren Ableitungen, sondern auch noch Integrationen der Funktion auftauchen. Ein wichtiges Beispiel dazu ist die
Schrodingergleichung in der Impulsdarstellung
(
Fredholm
'sche
Integralgleichung
).
Je nach Anwendungsgebiet und Methodik gibt es noch weitere Typen von Differentialgleichungen.
Man spricht von einem System von Differentialgleichungen, wenn
eine vektorwertige Abbildung ist und mehrere Gleichungen
gleichzeitig zu erfullen sind. Lasst sich dieses implizite Differentialgleichungssystem nicht uberall lokal in ein explizites System umwandeln, so handelt es sich um eine
Algebro-Differentialgleichung
.
Differentialgleichungen sind im Allgemeinen nicht eindeutig losbar, sondern benotigen dazu
Anfangs-
oder
Randwerte
. Im Bereich der partiellen Differentialgleichungen konnen auch sogenannte Anfangsrandwertprobleme auftreten.
Grundsatzlich wird bei Anfangs- oder Anfangsrandwertproblemen eine der Veranderlichen als Zeit interpretiert. Bei diesen Problemen werden gewisse Daten zu einem gewissen Zeitpunkt, namlich dem Anfangszeitpunkt, vorgeschrieben.
Bei den Randwert- oder Anfangsrandwertproblemen wird eine Losung der Differentialgleichung in einem beschrankten oder unbeschrankten Gebiet gesucht und wir stellen als Daten sogenannte Randwerte, welche eben auf dem Rand des Gebietes gegeben sind. Je nach Art der Randbedingungen unterscheidet man weitere Typen von Differentialgleichungen, etwa
Dirichlet-Probleme
oder
Neumann-Probleme
.
Auf Grund der Vielfaltigkeiten sowohl bei den eigentlichen Differentialgleichungen als auch bei den Problemstellungen ist es nicht moglich, eine allgemein gultige Losungsmethodik anzugeben. Lediglich explizite gewohnliche Differentialgleichungen konnen mit einer geschlossenen Theorie gelost werden. Eine Differentialgleichung nennt man
integrabel
, wenn es moglich ist, sie analytisch zu losen, also eine Losungsfunktion (das
Integral
) anzugeben. Sehr viele mathematische Probleme, insbesondere nichtlineare und partielle Differentialgleichungen, sind nicht integrabel, darunter schon ganz einfach erscheinende wie die des
Dreikorperproblems
, des
Doppelpendels
oder der meisten
Kreiseltypen
.
Ein strukturierter allgemeiner Ansatz zur Losung von Differentialgleichungen wird uber die
Symmetrie
und die kontinuierliche Gruppentheorie verfolgt.
1870 stellte
Sophus Lie
in seiner Arbeit die Theorie der Differentialgleichungen mit der
Lie-Theorie
auf eine allgemeingultige Grundlage.
Er zeigte, dass die alteren mathematischen Theorien zur Losung von Differentialgleichungen durch die Einfuhrung von sogenannten
Lie-Gruppen
zusammengefasst werden konnen.
Ein allgemeiner Ansatz zur Losung von Differentialgleichungen nutzt die Symmetrie-Eigenschaft der Differentialgleichungen aus. Dabei werden kontinuierliche infinitesimale Transformationen angewendet, die Losungen auf (andere) Losungen der Differentialgleichung abbilden. Kontinuierliche Gruppentheorie, Lie-Algebren und Differentialgeometrie werden verwendet, um die tiefere Struktur der linearen und nichtlinearen (partiellen) Differentialgleichungen zu erfassen und die Zusammenhange abzubilden, die schließlich zu den exakten analytischen Losungen einer Differentialgleichung fuhren.
Symmetriemethoden werden benutzt, um Differentialgleichungen exakt zu losen.
Die Fragen der Existenz, Eindeutigkeit, Darstellung und numerischen Berechnung von Losungen sind somit je nach Gleichung vollstandig bis gar nicht gelost. Aufgrund der Bedeutung von Differentialgleichungen in der Praxis ist hierbei die Anwendung der numerischen Losungsverfahren besonders bei partiellen Differentialgleichungen weiter fortgeschritten als deren theoretische Untermauerung.
Eines der
Millennium-Probleme
ist der Existenzbeweis einer regularen Losung fur die
Navier-Stokes-Gleichungen
. Diese Gleichungen treten beispielsweise in der
Stromungsmechanik
auf.
Differentialgleichungen haben als Losung Funktionen, die Bedingungen an ihre
Ableitungen
erfullen. Eine
Approximation
geschieht meist, indem Raum und Zeit durch ein
Rechengitter
in endlich viele Teile zerlegt werden (
Diskretisierung
). Die Ableitungen werden dann nicht mehr durch einen Grenzwert dargestellt, sondern durch Differenzen approximiert. In der
numerischen Mathematik
wird der dadurch entstandene Fehler analysiert und moglichst gut abgeschatzt.
Ein fruhes Verfahren, das
Euler
1768 in seinem Buch
Institutiones Calculi Integralis
vorstellte
,
ist das
Eulerverfahren
.
Je nach Art der Gleichung werden unterschiedliche Diskretisierungsansatze gewahlt, bei
partiellen Differentialgleichungen
etwa
Finite-Differenzen-Verfahren
,
Finite-Volumen-Verfahren
oder
Finite-Elemente-Verfahren
.
Die diskretisierte Differentialgleichung enthalt keine Ableitungen mehr, sondern nur noch rein algebraische Ausdrucke. Damit ergibt sich entweder eine direkte Losungsvorschrift oder ein lineares oder nichtlineares
Gleichungssystem
, welches dann mittels numerischer Verfahren gelost werden kann.
Eine Vielzahl von Phanomenen in
Natur
und
Technik
kann durch Differentialgleichungen und darauf aufbauende mathematische Modelle beschrieben werden. Einige typische Beispiele sind:
- Vielen
physikalischen
Theorien liegen Differentialgleichungen zu Grunde:
Bewegungsgleichungen
oder
Schwingungen
in der
newtonschen Mechanik
, das
Belastungsverhalten von Bauteilen
, die
Elektrodynamik
wird von den
Maxwell-Gleichungen
, die
Quantenmechanik
von der
Schrodingergleichung
beherrscht,
- in der
Astronomie
die
Bahnen
der Himmelskorper und die
Turbulenzen
im Innern der Sonne,
- in der
Biologie
etwa Prozesse bei
Wachstum
, bei Stromungen oder in
Muskeln
, oder in der
Evolutionstheorie
,
- in der
Chemie
die
Kinetik von Reaktionen
,
- in der
Elektrotechnik
das Verhalten von
Netzwerken
mit energiespeichernden Elementen,
- in der
Differentialgeometrie
das Verhalten von Flachen,
- in der
Stromungsmechanik
das Verhalten ebendieser Stromungen,
- in der
Okonomie
die Analyse von wirtschaftlichen Wachstumsprozessen (
Wachstumstheorie
),
- in der
Informatik
beispielsweise das Image-
Inpainting
(das Herausrechnen von Schrift oder Logos aus Bildern).
[2]
Das Feld der Differentialgleichungen hat der Mathematik entscheidende Impulse verliehen. Viele Teile der aktuellen Mathematik forschen an der Existenz-, Eindeutigkeits- und Stabilitatstheorie verschiedener Typen von Differentialgleichungen.
Differentialgleichungen oder Differentialgleichungssysteme setzen voraus, dass ein System in
algebraischer Form
beschrieben und quantifiziert werden kann. Weiterhin, dass die beschreibenden Funktionen zumindest in den interessierenden Bereichen
differenzierbar
sind. Im naturwissenschaftlich-technischen Umfeld sind diese Voraussetzungen zwar haufig gegeben, in vielen Fallen sind sie aber nicht erfullt. Dann kann die Struktur eines Systems nur auf einer hoheren Abstraktions-Ebene beschrieben werden. Siehe hierzu in der Reihenfolge ansteigender Abstraktion:
- G. H. Golub, J. M. Ortega:
Wissenschaftliches Rechnen und Differentialgleichungen. Eine Einfuhrung in die Numerische Mathematik
. Heldermann Verlag, Lemgo 1995,
ISBN 3-88538-106-0
.
- G. Oberholz:
Differentialgleichungen fur technische Berufe.
4. Auflage. Verlag Anita Oberholz, Gelsenkirchen 1995,
ISBN 3-9801902-4-2
.
- P.J. Olver:
Equivalence, Invariants and Symmetry
. Cambridge Press, 1995.
- L. Papula:
Mathematik fur Ingenieure und Naturwissenschaftler Band 2
. Viewegs Fachbucher der Technik, Wiesbaden 2001,
ISBN 3-528-94237-1
- H. Stephani:
Differential Equations: Their Solution Using Symmetries.
Edited by M. MacCallum. Cambridge University Press, 1989.
- H. Benker:
Differentialgleichungen mit MATHCAD und MATLAB
. Springer-Verlag, Berlin / Heidelberg / New York 2005.
- ↑
Guido Walz (Hrsg.), Lexikon der Mathematik, Springer-Spektrum Verlag, 2017, Artikel
lineare Differentialgleichung, semilineare Differentialgleichung
- ↑
Ivars Peterson:
Filling in Blanks
. In:
Science News
. 161. Jahrgang,
Nr.
19
. Society for Science, 11. Mai 2002,
S.
299?300
,
doi
:
10.2307/4013521
(englisch).