Als
Cambridger Platoniker
(
Cambridge Platonists
) bezeichnet man eine einflussreiche Gruppe von englischen Philosophen und Theologen des 17. Jahrhunderts, die fur einen
neuplatonisch
gepragten christlichen
Platonismus
zur Abwehr
atheistischer
und
mechanistischer
Lehren eintraten. Sie befurworteten Gewissensfreiheit und Toleranz in konfessionellen Fragen. Man spricht auch von der ?Cambridger Schule“ oder ?Schule von Cambridge“, denn die vier fuhrenden Vertreter dieser Richtung lehrten an der
Universitat Cambridge
.
Die vier fuhrenden Kopfe des Cambridger Platonismus waren
Henry More
(1614?1687),
Ralph Cudworth
(1617?1688),
Benjamin Whichcote
(1609?1683) und
John Smith
(1616?1652). Der prominenteste und als Schriftsteller weitaus produktivste von ihnen war More; er war
Fellow
des
Christ’s College
der Universitat Cambridge. Whichcote, der oft (allerdings nicht ganz zu Recht) als Grunder oder Wegbereiter der Gruppe bezeichnet wird,
[1]
war Vizekanzler des
King’s College
. Cudworth war zunachst Fellow des
Emmanuel College
und wurde dann
Master
des Christ’s College. Smith, ein Schuler Whichcotes, war Fellow des
Queens’ College
.
Weitere dieser Richtung zugerechnete, aber zum Teil nur relativ lose mit der Cambridger Gruppe verbundene Denker sind:
- Nathaniel Culverwell
, der Verfasser der erst 1652 nach seinem Tod publizierten Schrift
An Elegant and Learned Discourse of the Light of Nature
. Seine Zugehorigkeit zu den Cambridger Platonikern wird in der Forschung teils bezweifelt.
- Richard Cumberland
(† 1718), ein Fellow des
Magdalene College
in Cambridge, Verfasser von
De legibus naturae
(?Uber die Gesetze der Natur“)
- Joseph Glanvil
(† 1680), ein in
Oxford
ausgebildeter Gelehrter und Bewunderer Henry Mores. In seiner Schrift
Vanity of Dogmatizing
trat er fur ein undogmatisches Ausdrucken religioser Ansichten ein. Er war ein entschiedener Gegner des
Aristotelismus
.
- John Norris
(1657?1711), der dem
All Souls College
der Oxforder Universitat angehorte. Er war stark von Henry More beeinflusst und trat als Kritiker des Systems von
John Locke
hervor. Seine eigene philosophische Theorie beschrieb er im zweibandigen
Essay Towards the Theory of the Ideal or Intelligible World
(veroffentlicht 1701?1704).
- George Rust
(† 1670), ein Schuler Henry Mores, der spater Bischof von Dromore in Irland wurde
- Peter Sterry
(1613?1672), ein Schuler Whichcotes. Er war zwar
Puritaner
, trat aber fur religiose Toleranz ein und war von Neuplatonikern wie
Plotin
und
Marsilio Ficino
beeinflusst. Daher wird er mit Recht zu der Platonikergruppe gerechnet.
- John Worthington
(1618?1671), ein Schuler Whichcotes und Fellow des Emmanuel College in Cambridge
Die Cambridger Platoniker stammen aus
puritanisch
-
calvinistischem
Milieu. Ihre philosophischen und theologischen Ansichten entwickeln sie in kritischer Auseinandersetzung mit dem puritanischen Denken, von dem sie sich mehr oder weniger deutlich distanzieren, da sie es fur
rigoristisch
halten. Sie berufen sich auf die Lehre
Platons
, die sie ? wie im Mittelalter und in der Fruhen Neuzeit allgemein ublich ? im Sinne der
neuplatonischen
Tradition auffassen. Dabei knupfen sie sowohl an den antiken Neuplatoniker
Plotin
als auch an den Neuplatonismus des
Renaissance-Humanisten
Marsilio Ficino
an. Außerdem sind sie von den griechischen
Kirchenvatern
beeinflusst, unter denen sie
Origenes
bevorzugen. Ihr Verhaltnis zu
Aristoteles
hingegen ist distanziert. Innerhalb des Neuplatonismus bilden sie eine rationalistische Richtung, denn sie legen großten Wert auf eine rationale Begrundung ihres christlichen Glaubens und auf die restlose Vereinbarkeit von Vernunft und Spiritualitat. Die These der Ubereinstimmung von Wissenschaft und Religion leiten sie aus der Annahme ab, dass Gott die Welt vernunftig geordnet hat. Gott handelt stets in Ubereinstimmung mit der Vernunft, also nicht voraussetzungslos und willkurlich. Daher ist die menschliche Vernunft zur Erkenntnis der Weltordnung befahigt. Unter anderem durch Selbstbetrachtung kann die
Seele
Einsicht in die Natur und die Eigenschaften des Gottlichen gewinnen. Zwar halten die Cambridger Platoniker eine gottliche Offenbarung, die den Bereich der Vernunft ubersteigt, fur moglich, doch sind sie davon uberzeugt, dass die Inhalte einer solchen Offenbarung der Vernunft nicht widersprechen konnen. Somit ist auch die Offenbarung einer gewissen Uberprufung durch die Vernunft unterworfen. Einen Glauben, der sich nicht mit vernunftigem Erkenntnisstreben verbindet, lehnen sie ab.
Die Cambridger Platoniker legen besonderes Gewicht auf die Lehre von der
Willensfreiheit
und der sich daraus ergebenden Verantwortung des Individuums. Die
fatalistische
Vorstellung eines Verhangnisses, einer vorgegebenen schicksalhaften Notwendigkeit der Ereignisse und menschlichen Handlungen lehnen sie in jeder Form ab. Damit wenden sie sich einerseits theologisch gegen die
calvinistische
Vorstellung einer ?doppelten
Pradestination
“ (Vorherbestimmung der nicht Auserwahlten zur Holle schon vor ihrer Geburt), andererseits philosophisch gegen mechanistische Weltbilder und einen
atheistischen
und
materialistischen
Determinismus
. Insbesondere argumentieren sie gegen die Weltanschauung ihres Hauptgegners
Thomas Hobbes
, der die Realitat auf Korperliches reduziert, und gegen das System
Spinozas
, das sie fur atheistisch halten. Ihre antimechanistische Grundhaltung fuhrt sie auch zur Kritik am
Cartesianismus
, der Lehre von
Rene Descartes
. Sie schatzen Descartes’ rationalistischen Ansatz, doch in der mechanistischen Naturauffassung der Cartesianer sehen sie einen letztlich zum Atheismus fuhrenden Irrweg.
Auf dem Gebiet der Theologie wollen sie die Trennung zwischen der Natur und einer von der Natur wesensverschiedenen, nur durch Gnade erreichbaren Ubernatur aufheben. Sie wenden sich gegen eine Betonung kirchlicher Dogmen und konfessioneller Gegensatze. Wegen ihrer liberalen Grundhaltung und ihrer Bereitschaft, ein relativ breites Meinungsspektrum hinzunehmen, werden sie von ihren streng konfessionell denkenden, calvinistisch orientierten Gegnern als
Latitude men
(?
Latitudinarier
“, Befurworter der Breite) verspottet. Ihre Argumentation gegen den Calvinismus hat zu dessen Niedergang in England beigetragen.
Die Cambridger Platoniker glauben nicht an eine durch den
Sundenfall
fundamental verdorbene Natur des Menschen. Sie befurworten ein optimistischeres, eher humanistisches Menschenbild. Gemaß der platonischen, vor allem neuplatonischen Tradition gehen sie davon aus, dass der Mensch durch rechtes Verhalten gottahnlich werden kann.
Ein zentrales Element ihrer Gedankenwelt ist die individuelle
Unsterblichkeit
der Seele. Den Fortbestand der Individualitat verteidigen sie einerseits gegen die Vorstellung eines Aufgehens der Einzelseele in einer umfassenden Einheit (wie etwa im
Averroismus
), andererseits gegen das materialistische Konzept eines Endes der Personlichkeit mit dem Tod.
- Gerald R. Cragg (Hrsg.):
The Cambridge Platonists
. University Press of America, Lanham MD 1968,
ISBN 0-8191-4347-2
(Auszuge aus Werken der Cambridger Platoniker)
- Graham Alan John Rogers:
Die Cambridger Platoniker
. In: Jean-Pierre Schobinger (Hrsg.):
Grundriss der Geschichte der Philosophie
. Die Philosophie des 17. Jahrhunderts
. Band 3:
England
, 1. Halbband. Schwabe, Basel 1988,
ISBN 3-7965-0872-3
, S. 240?290 (mit umfangreicher Bibliografie).
- Graham Alan John Rogers u. a. (Hrsg.):
The Cambridge Platonists in Philosophical Context. Politics, Metaphysics and Religion
. Kluwer, Dordrecht 1997,
ISBN 0-7923-4530-4
.
- Stefan Weyer:
Die Cambridge Platonists. Religion und Freiheit in England im 17. Jahrhundert
. Peter Lang, Frankfurt a. M. 1993,
ISBN 3-631-45684-0
.
- Mark Goldie:
Cambridge Platonists.
In: Henry Colin Gray Matthew, Brian Harrison (Hrsg.):
Oxford Dictionary of National Biography
, from the earliest times to the year 2000
(ODNB). Oxford University Press, Oxford 2004,
ISBN 0-19-861411-X
(
doi:10.1093/ref:odnb/94274
Lizenz erforderlich
), Stand: September 2005
- ↑
Siehe dazu Craig A. Staudenbaur:
Platonism, Theosophy, and Immaterialism: Recent Views of the Cambridge Platonists
. In:
Journal of the History of Ideas
35, 1974, S. 157?169, hier: 157?163; Alexander Jacob (Hrsg.):
Henry More’s Refutation of Spinoza
, Hildesheim 1991, S. II.