Manuel Alejandro Alvarez Jofre
(*
9. Februar
1868
in
Santiago de Chile
; †
19. Juli
1960
in
Paris
) war ein
chilenischer
Jurist
und
Diplomat
und einer der bedeutendsten
lateinamerikanischen
Volkerrechtler des 20. Jahrhunderts.
Er wirkte ab 1901 als Professor fur vergleichendes Zivilrecht an der
Universidad de Chile
sowie ab 1906 als Rechtsberater des chilenischen Außenministeriums und Vertreter seines Heimatlandes bei internationalen Tagungen. Von 1946 bis 1955 fungierte er als bisher einziger Chilene als Richter am
Internationalen Gerichtshof
in
Den Haag
.
Sein von
internationalistischen
und
panamerikanistischen
Positionen gepragtes Wirken trug wesentlich zur Entwicklung des
Volkerrechts
in der ersten Halfte des 20. Jahrhunderts und zur Etablierung eines lateinamerikanischen Volkerrechtsbewusstseins bei. In Anerkennung seiner Leistungen wurde er unter anderem in das
Institut de France
, in die
Real Academia de Ciencias Morales y Politicas
Spaniens und in das
Institut de Droit international
aufgenommen sowie mehrfach fur den
Friedensnobelpreis
nominiert.
Alejandro Alvarez wurde 1868 in
Santiago de Chile
geboren
[1]
und schloss 1892 ein Studium der
Rechtswissenschaften
an der
Universidad de Chile
ab. Sieben Jahre spater
promovierte
er an der
Universitat Paris
, an der er vom spateren
Friedensnobelpreistrager
Louis Renault
beeinflusst wurde. Die Zeit ab 1890, in der er sich, auch im Rahmen seiner
Dissertation
, insbesondere mit dem
Zivil-
und
Familienrecht
sowie mit rechtsvergleichenden Fragestellungen in diesem Bereich beschaftigte, gilt als pragend fur sein spateres Wirken.
[2]
Ab 1895 unterrichtete er
vergleichendes
Zivilrecht an der Universidad de Chile, an der er 1901 zum Professor ernannt wurde. In den Jahren um die Jahrhundertwende unternahm er verschiedene Initiativen zur Reformierung der juristischen Ausbildung in seinem Heimatland, blieb damit jedoch weitestgehend erfolglos.
[2]
Bis zum Beginn der 1920er Jahre lebte Alejandro Alvarez wechselweise in
Europa
und in
Sudamerika
, bevor er sich in
Paris
niederließ.
Etwa ab 1910 begann er, sich zunehmend auf den Bereich des internationalen Rechts zu konzentrieren.
[2]
Wahrend dieser Zeit wirkte er in den Jahren von 1906 bis 1912 als Rechtsberater des chilenischen Außenministeriums, von 1907 bis 1920 gehorte er dem
Standigen Schiedshof
in
Den Haag
an. Nach der Grundung der
Haager Akademie fur Volkerrecht
im Jahr 1914 war er Mitglied von deren Kuratorium. Bei den Wahlen der ersten Richter fur den neugegrundeten
Standigen Internationalen Gerichtshof
im September 1921 wurde Alejandro Alvarez durch sein Heimatland Chile sowie durch
Brasilien
und
Uruguay
nominiert. Wahrend er in der Volkerbundversammlung die erforderliche Mehrheit erhielt, wahlten die Mitglieder des Volkerbundrates mehrheitlich den belgischen Kandidaten
Edouard Descamps
.
[3]
Auch bei der Wahl der Hilfsrichter ergaben sich zwischen Alvarez und Descamps die gleichen Mehrheitsverhaltnisse. Als Kompromisskandidaten wurden der Schweizer
Max Huber
als regularer Richter und der Norweger
Frederik Beichmann
als Hilfsrichter von beiden Gremien gewahlt. Zwischen 1921 und 1923 vertrat Alejandro Alvarez sein Heimatland als Delegierter bei den Tagungen der Versammlung des
Volkerbundes
und in der Folgezeit bei verschiedenen anderen internationalen Konferenzen in Europa und Amerika.
Ab den 1920er Jahren galt sein Interesse vor allem dem Wiederaufbau der internationalen Ordnung nach dem
Ersten Weltkrieg
.
[2]
Diesbezuglich propagierte er unter anderem ab 1924 ein Konzept zur Reform des Volkerbundes, das auf der Bildung regionaler beziehungsweise kontinentaler Zusammenschlusse basierte.
[4]
Mit diesen Vorschlagen beeinflusste er auch andere Ideen wie die auf den osterreichischen Schriftsteller
Richard Nikolaus Coudenhove-Kalergi
zuruckgehende
Paneuropa-Bewegung
.
[5]
In den 1930er Jahren arbeitete er unter anderem unter dem Titel ?Expose des motifs et Declaration des grands principes du droit international moderne“ eine 40 Artikel umfassende Deklaration der grundlegenden Prinzipien des Volkerrechts aus, die von bedeutenden internationalen Fachverbanden der damaligen Zeit wie der
International Law Association
, der
Academie Diplomatique Internationale
und der
Union Juridique International
angenommen wurde.
[6]
Wahrend des
Zweiten Weltkrieges
veroffentlichte er mehrere Artikel in
spanischer Sprache
, die auf drei Konferenzen basierten, die er 1941 in
Buenos Aires
organisierte.
[7]
In diesen Schriften betrachtete er den Zweiten Weltkrieg zwar einerseits als
Kataklysmus
und als Riss des Volkerrechts, andererseits war er jedoch auch optimistisch im Hinblick auf den nachfolgenden Beginn einer neuen und besseren Ara.
Nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges wurde Alejandro Alvarez 1946 als bisher einziger Jurist aus Chile zum
Richter
an den
Internationalen Gerichtshof
gewahlt.
[8]
Mit seinem Alter von 78 Jahren zum Zeitpunkt der Wahl war er der alteste unter den ersten Richtern des neugegrundeten Gerichtshofs. Zu den 31 Staaten, deren Stimmen er erhielt, zahlten neben 14 lateinamerikanischen Landern unter anderem seine Wahlheimat Frankreich,
Norwegen
, die
Sowjetunion
und
Sudafrika
. Er war wahrend seiner neunjahrigen Amtszeit bis 1955 an zwolf Entscheidungen sowie acht
Gutachten
beteiligt, und gab in zwei Urteilen und vier Gutachten eine
Mindermeinung
sowie in drei Urteilen und zwei Gutachten zustimmende
Sondervoten
ab.
Aufgrund seiner Stellungnahmen galt er als ausgepragter Individualist und Querdenker sowie als ?Great Dissenter“ (großer Abweichler) des Gerichts.
[9]
Seine Sondervoten enthielten stets einen langeren
Prolog
, in welchem er seine Vorstellungen zur Notwendigkeit eines ?neuen Volkerrechts“ darlegte, bevor er sich den eigentlichen Fragestellungen des jeweiligen Falls zuwandte.
[10]
Als inhaltlich weitreichend erwies sich insbesondere seine 1950 in dem Gutachten
International Status of South West Africa
zum Rechtsstatus von
Sudwestafrika
abgegebene Mindermeinung, welcher sich der Gerichtshof rund zwei Jahrzehnte spater in dem 1971 abgegebenen Gutachten
Legal Consequences for States of the Continued Presence of South Africa in Namibia
anschloss.
[9]
Alejandro Alvarez starb 1960 im Alter von 92 Jahren in Paris.
Basis der
Rechtsphilosophie
von Alejandro Alvarez war die soziologisch-historisch orientierte Sichtweise, dass das Recht untrennbar mit seinem politischen und sozialen Umfeld verbunden sei, und dass Veranderungen in diesem Umfeld Auswirkungen auf das Recht hatten.
[11]
Als Ausdruck des gesellschaftlichen Zustandes, zu dem er auch das Rechtsbewusstsein zahlte, sah er die offentliche Meinung, die damit fur ihn von hochster Bedeutung fur die Entwicklung des Rechts war. Verschiedenen Ereignissen und Entwicklungen seit der Mitte des 19. Jahrhunderts, wie der
Industrialisierung
und der Entstehung des
internationalen Handelsverkehrs
, der Ausbreitung neuer
Kommunikationsmittel
sowie den beiden Weltkriegen, schrieb er eine Rolle bei der Entwicklung eines neuen internationalen Rechtsbewusstseins zu.
[11]
Naturrechtlichen
Positionen innerhalb des Volkerrechts stand er kritisch gegenuber, da deren Befurworter seiner Meinung nach an die universelle Geltung aller volkerrechtlichen Prinzipien glauben und damit weder die Entwicklung des Volkerrechts angemessen berucksichtigen noch die Entstehung von verschiedenen koexistierenden Variationen erklaren wurden.
[12]
Andererseits vertrat er auch keinen starren
Rechtspositivismus
, sondern vielmehr eine an den Ideen des franzosischen Philosophen
Auguste Comte
orientierte
positivistische
Position, der zufolge das Volkerrecht aus der Praxis des staatlichen Handelns resultiert. Seine Rechtstheorie war daruber hinaus aufgrund seiner Ausbildung und seines Lebens in
Frankreich
durch die Denkschule des
Solidarismus
beeinflusst, die maßgebliche Auswirkungen auf die ideologischen Grundlagen der
Dritten Franzosischen Republik
hatte
[12]
und unter anderem von Louis Renault,
Leon Bourgeois
und
Antoine Pillet
sowie im Bereich des Volkerrechts durch
Georges Scelle
vertreten wurde.
[13]
Das Wirken von Alejandro Alvarez, der anfangs vor allem
panamerikanistische
und spater auch
internationalistische
Positionen vertrat, gilt als pragend fur die Entwicklung des Volkerrechts in der ersten Halfte des 20. Jahrhunderts und fur die Herausbildung eines spezifisch lateinamerikanischen Bewusstseins in diesem Bereich.
[2]
Im Laufe seines Lebens veroffentlichte er mehr als 100 Schriften, die neben dem internationalen Recht und den
internationalen Beziehungen
insbesondere das Privatrecht, die
Rechtstheorie
und die Geschichte der
Diplomatie
betrafen.
[7]
Er sah das Volkerrecht zu der Zeit, in der er sich in Europa niederließ, in einer Krise, da sich die Ausbildung in diesem Rechtsbereich seiner Auffassung nach von der Wirklichkeit der internationalen Beziehungen abgewandt hatte und sich vielmehr an einer engen und formalen Sichtweise orientierte, die nach Meinung von Alejandro Alvarez mit dem Zivilrecht verbunden war.
[14]
In den 1920er Jahren bemuhte er sich deshalb im Rahmen seiner Aktivitaten im
American Institute of International Law
um eine
Kodifizierung
seiner Vorstellungen des internationalen Rechts, um auf diese Weise die durch den Ersten Weltkrieg ausgelosten politischen und sozialen Umwalzungen in eine Weiterentwicklung der internationalen Rechtsordnung umzusetzen, welche die Realitat der internationalen Ordnung widerspiegeln wurde.
[2]
[14]
Dabei konzentrierte er sich anfangs sowohl im Bereich des zwischenstaatlichen Rechts als auch des
internationalen Privatrechts
auf die Herausbildung eines ?amerikanischen Volkerrechts“ fur die Lander Lateinamerikas und die
Vereinigten Staaten
. Dessen Grundlagen sah er in gemeinsamen Rechtsquellen und Prinzipien, die aus der gemeinsamen Geschichte sowie dem gemeinsamen Handeln dieser Lander in bestimmten Situationen und den sich daraus ergebenden Gebrauchen resultieren wurden.
[15]
Seine diesbezuglichen Uberlegungen, in denen er die Traditionen des
angelsachsisch gepragten Rechtssystems
der USA mit der auf die
romanisch-europaischen Rechtsauffassungen
zuruckgehenden Rechtspraxis in den lateinamerikanischen Landern zusammenzufuhren versuchte,
[1]
formulierte er erstmals in einem Artikel, den er 1909 unter dem Titel ?Latin America and International Law“ im
American Journal of International Law
veroffentlichte. Basierend auf dieser Position vertrat er bis an sein Lebensende die Sichtweise einer lateinamerikanischen Identitat im Volkerrecht sowie die Bedeutung von regionaler Variabilitat in diesem Rechtsbereich.
[15]
Aus der Entwicklung einer spezifischen lateinamerikanischen Volkerrechtskonzeption ergaben sich seiner Meinung nach jedoch auch wichtige Beitrage zum allgemeinen Volkerrecht.
[12]
Daruber hinaus sah er eine Divergenz des Volkerrechts auf regionaler Ebene nicht im Widerspruch zur Idee einer universalen Staatengemeinschaft.
[12]
Seine Theorie eines regionalen
Partikularismus
im Volkerrecht wurde jedoch erst nach seiner Wahl an den Internationalen Gerichtshof verstarkt durch auslandische Juristen wahrgenommen und diskutiert.
[1]
Alejandro Alvarez betonte bereits in seinen fruheren Werken, vor allem aber in seinen spateren Schriften, die Bedeutung
internationaler Organisationen
fur die Weltordnung sowie die Berucksichtigung sozialer Uberlegungen und individueller
Menschenrechte
bei einer Erneuerung der internationalen Rechtsordnung. So enthielt bereits der ab 1916 von ihm verbreitete Text ?Declaration of the Rights and Duties of Nations“ einen Abschnitt mit dem Titel ?International Rights of the Individual“ zu den individuellen Rechten, die unabhangig von
Nationalitat
,
Abstammung
,
Geschlecht
oder
Religion
fur jeden Menschen in jedem Land gelten sollten. Alejandro Alvarez nahm deshalb fur sich selbst in Anspruch, als erster die Idee von Menschenrechten als Teil des Volkerrechts international verbreitet zu haben.
[16]
Insbesondere nach 1945 propagierte er ein neues Verstandnis des Volkerrechts und kritisierte die weit verbreitete Sichtweise, dass die internationale Gesellschaft lediglich eine Ansammlung unabhangiger Staaten ware und die Regelung von deren Beziehungen die alleinige Aufgabe des internationalen Rechts sei. Vielmehr betonte er die Notwendigkeit einer verantwortungsvollen Beteiligung von Staaten am Aufbau einer stabilen internationalen Gemeinschaft.
[1]
Wahrend seiner Zeit als Richter am Internationalen Gerichtshof nutzte er Sondervoten in den Entscheidungen des Gerichts, um seine Positionen weiterzuentwickeln und um die Rolle des Gerichtshofs bei der Rechtssetzung zu betonen.
[8]
Im Bezug auf die Entstehung einer Vielzahl neuer Staaten nach dem Zweiten Weltkrieg infolge der
Unabhangigkeitsbestrebungen
insbesondere in
Afrika
und
Asien
unterstutzte er eine breite Anwendung der Prinzipien der Nichteinmischung und der Nichtaggression.
[1]
Alejandro Alvarez, der als einer der renommiertesten Volkerrechtler Lateinamerikas im 20. Jahrhundert gilt,
[7]
gehorte ab 1913 dem
Institut de Droit international
, ab 1922 der
Real Academia de Ciencias Morales y Politicas
Spaniens und ab 1923 dem
Institut de France
an. Daruber hinaus war er ab 1929 Ehrenmitglied der
International Law Association
und der
Paneuropa-Union
. 1959 wurde er in Anerkennung seiner Verdienste fur sein Heimatland zum Botschafter auf Lebenszeit ernannt. Die
Universidad de Buenos Aires
(1941), die
Universitat Straßburg
(1947) und die Universidad de Chile (1958) verliehen ihm die
Ehrendoktorwurde
. In den Jahren 1932, 1933 und 1934 wurde er fur sein Wirken fur den Friedensnobelpreis nominiert.
[17]
Die
Fachzeitschrift
?Leiden Journal of International Law“ veroffentlichte 2006 in der vierten Ausgabe des 19. Jahrgangs eine Artikelserie zu seinem Leben und Wirken. In der Stadt
Ovalle
in der chilenischen Region
Coquimbo
tragt seit 1960 eine Schule seinen Namen.
[18]
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Nobelprize.org: Nomination Database
(abgerufen am 11. November 2011)
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Liceo Alejandro Alvarez Jofre ? Origen del Nombre
(
Memento
des
Originals
vom 19. April 2018 im
Internet Archive
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(spanisch, mit Bild; abgerufen am 13. Februar 2018).