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Conrad-Martius
Hedwig Conrad-Martius
(1888-1966)
kam am 27. Februar als Kind einer angesehenen Medizinerfamilie
zur Welt und war eine der ersten Frauen, die in Deutschland ein reguläres
Hochschulstudium absolvieren konnte. In München studierte sie zunächst
bei dem Philosophen und bekennenden Phänomenologen Hans Lipps (1889-1941),
bevor sie 1910 zu Edmund Husserl nach Göttingen wechselte und dort
schon bald den Vorsitz des renommierten Phänomenologenkreises übernahm.
1912 promovierte sie mit einer Arbeit "Über die erkenntnistheoretischen
Grundlagen des Positivismus", die überdies von der Philosophischen
Fakultät mit einem Preis honoriert wurde. Im gleichen Jahr heiratete
sie ihren Studienkollegen Theodor Conrad. Mit ihm unterhielt sie - aufgrund
einer finanziellen Notlage - für einige Jahre eine Obstplantage in
Bergzabern, welche sich zu einem Knotenpunkt der phänomenologischen
Szene entwickelte und auch für Edith Stein ein geliebter Aufenthaltsort
wurde.
Wie für ihre
Studienkollegin und andere begabte Frauen bot sich auch für Conrad-Martius
keine Habilitationsmöglichkeit und damit die Aussicht auf eine erfolgreiche
Universitätslaufbahn. 1933 wurde sie wegen eines jüdischen Großelternteils
mit einem absoluten Publikationsverbot sanktioniert. Erst nach Kriegsende
begann ihre eigentliche Hochschulkarriere. 1949 wurde sie Dozentin für
Naturphilosophie und 1955 Honorarprofessorin an der Universität München.
Ab den 50er Jahren errang sie durch zahlreiche Vorträge sowie Hörfunk-
und Zeitschriftenbeiträge große Popularität und wurde
schließlich als eine der bedeutendsten Phänomenologinnen Deutschlands
anerkannt.
Edith Stein und Hedwig Conrad-Martius
Die Philosophinnen
lernten sich 1920 kennen. Seither verband beide Frauen eine intensive
Freundschaft, die bis zum gewaltsamen Tod der einen anhielt und durch
ein herzliches Verhältnis genauso wie durch einen fruchtbaren wissenschaftlichen
Austausch gekennzeichnet war. Edith Stein verbrachte insgesamt mehrere
Monate auf der Obstplantage in Bergzabern. Hier soll ihr durch Zufall
das Buch der Heiligen Teresa von Ávila in die Hände gefallen
sein, das einen tiefen Eindruck bei ihr hinterließ. Tatsächlich
prägte es nachhaltig ihren religiösen Weg, auf dem Hedwig Conrad-Martius
sie begleitete, als sie im Januar 1922 - trotz protestantischer Zugehörigkeit
- die Taufpatenschaft für ihre Kollegin übernahm. Zeugen dieser
freundschaftlichen Verbindung sind zahlreiche Briefe aus den Jahren 1932-39,
die Conrad-Martius 1960 veröffentlichte.
Schon früh grenzte
sich Conrad-Martius von der - ihrem Verständnis nach - idealistischen
bzw. transzendentalen Richtung Edmund Husserls ab. Sie betrachtete diese
nämlich lediglich als einen Teilaspekt der Phänomenologie, welche
einer Ergänzung durch realistische bzw. ontologische Forschung bedürfe.
Nach Conrad-Martius soll das wirkliche Sein nicht solipsistisch, d.h.
ausschließlich vom Bewußtsein des Subjekts her bestimmt, sondern
in seiner hypothetischen Existenz als real angenommen werden. Das Bewußtsein,
das man in der Moderne als oberste Autorität anerkennt, wird so in
seinem Machtanspruch relativiert. Auch Edith Stein fühlte sich eher
der realistischen Seitenlinie verpflichtet, auch wenn sie die idealistische
Tendenz ihres Lehrers differenzierter als die Kollegin betrachtete. Für
sie blieb der Faktor des Subjektivismus zudem von tragender Bedeutung.
Laut Hans Rainer Sepp liegt das Verdienst Edith Steins gerade in der -
von Conrad-Martius geforderten - Synthese von transzendentaler und ontologischer
Phänomenologie.
Zentral für die Wissenschaftlerinnen war die Frage nach dem menschlichen
Sein, das Conrad-Martius jedoch in den Kontext der Natur einbezog, während
die Gefährtin bereits in ihrer Dissertation über die "Einfühlung"
den zwischenmenschlichen Aspekt verfolgte. Eine weitere Analogie findet
sich in der Affinität zum Spirituellen und in der Analyse transzendentaler
Phänomene. Beide Frauen charakterisiert dabei eine Einbindung von
antik-mittelalterlichem Denken, um einer 'Diktatur des Logos' im 20. Jahrhundert
entgegenzuwirken. So versuchte Edith Stein, eine Versöhnung von Glaube
und Vernunft einzuleiten, während Conrad-Martius sich hingegen, laut
Angela Ales Bello, bemühte, ein "organische[s] Verständnis
der Natur" neu zu etablieren. Diese scheinbar von der Moderne abgewandten,
metaphysischen Positionen blieben nicht unumstritten und fanden - etwa
in Martin Heidegger - einen vehementen Kritiker.
Edith Steins Briefe
dokumentieren den regen Dialog zwischen den kongenialen Denkerinnen, der
das jeweilige eigene Schaffen bereicherte. So beeinflußte beispielsweise
Conrad-Martius' "Realontologie" nicht unwesentlich die Überarbeitung
der Seinsstufen in Edith Steins "Endliches und ewiges Sein".
Beide ehrten - neben der menschlichen Wertschätzung - die geistigen
Leistungen der Freundin und Kollegin. Dennoch zeichnet sich sowohl Hedwig
Conrad-Martius' wie auch Edith Steins Werk durch einen eigenständigen
thematischen Weg wie auch durch intellektuelle Originalität aus.
Hedwig Conrad-Martius Vortrag über Edith Stein
(vor der Gesellschaft für christlich-jüdische Zusammenarbeit)
Es ist keine leichte
Aufgabe, über Edith Stein zu sprechen. Zunächst weil es im letzten
Grunde überhaupt unmöglich ist, über einen so gut wie ausschließlich
religiös bestimmten Menschen zulängliche Aussagen zu machen.
Das innere Leben eines solchen Menschen liegt im Geheimnis Gottes. Sodann
war Edith Stein, die spätere Sr. Theresia Benedicta a cruce, eine
außergewöhnlich verschlossene, in sich versiegelte Natur. Secretum
meum mihi, mein ist das Geheimnis, dieses Wort, das sie einst zu mir sprach,
steht mit Recht in allen ihren Biographien.
In einem speziellen Sinne aber ist es für mich schwer, öffentlich
über sie zu sprechen, weil ich ihr nahestand, weil sie meine Freundin
war. Gerade diese Bemerkung könnte allerdings mißverstanden
werden. Selbstverständlich ist es nicht leicht, über einen geliebten
Menschen zu reden, der nach Jahren tiefsten Leides eines so entsetzlichen
gewaltsamen Todes gestorben ist! Eines Todes, der nahezu ein ganzes Volk
mit verbrecherischer Geste einfach dem Nichts überantwortete. Auf
diejenigen, die Edith von früher her kannten, wirkte die Photographie,
die unmittelbar vor ihrer Flucht aus dem Kölner Karmel in den Holländer
Karmel Echt aufgenommen wurde, so fremd, daß wir das Bild fast nicht
ansehen konnten. Ihr einfaches, unschuldiges, fast immer fröhliches
und liebliches Wesen war durch Leiden ganz entstellt.
Die Art und Weise,
in der wir zueinander standen, war etwas ganz anderes als eine gewöhnliche
Freundschaft. Da war zunächst die Gemeinsamkeit der philosophischen
Atmosphäre, aus der wir mit vielen anderen herausgeboren waren. Wir,
die wir persönlichste Schüler unseres hochverehrten Lehrers
und Meisters Edmund Husserl gewesen sind. "Geistig herausgeboren"!
Hiermit möchte ich ausdrücken, daß es nicht
bloß
um eine gemeinsame Art methodischen Denkens und Forschens ging, erst recht
nicht um eine gemeinsame Weltanschauung oder dergleichen. Die allerdings
tief gemeinsame Art des Denkens und Forschens stellte - und stellt - einen
Bezug zwischen den Husserlschülern her, den ich nicht anders bezeichnen
kann denn als eine [natürliche] Geburt aus einem gemeinsamen Geist,
der doch gerade keine inhaltlich gemeinsame Weltanschauung ist. Nicht
besser als mit einigen Worten von Peter Wust könnte das Wesen der
Gemeinsamkeit aller wahren Phänomenologen beschrieben werden. "Von
Anfang an muß wohl", sagte er, "in der Intention jener
neuen philosophischen Richtung etwas ganz Geheimnisvolles verborgen gewesen
sein, eine Sehnsucht zurück zum Objektiven, zur Heiligkeit des Seins,
der Reinheit und Keuschheit der Dinge, der 'Sachen selbst'. (...)"
(...)
Das war die Grundlage von unser aller Verbindung, die durch mehrere Göttinger
Generationen ging. Wir besaßen keine Fachsprache, kein gemeinsames
System, das am allerwenigsten. Es war nur der geöffnete Blick für
die geistige Erreichbarkeit des Seins in allen seinen nur denkbar möglichen
Gestaltungen [sofern ihr bloßes Wesen in Betracht kommt], was uns
einte. Und die ungeheuren Perspektiven, die sich hieraus für die
Grundlagenforschung [die Grundlagenforschung der Grundlagenforschungen!]
aller nur denkbaren Wissenschaften ergaben. Es war das Ethos der sachlichen
Reinheit und Reinlichkeit [Wust sagte "Keuschheit"]. Das mußte
natürlich auf Gesinnung, Charakter und Lebensweise abfärben.
So war es völlig selbstverständlich, daß wir untereinander
befreundet waren, welcher Herkunft, Rasse, Konfession wir auch immer angehören
mochten. Edith Stein war geborene Phänomenologin. Ihr nüchterner,
klarer, objektiver Geist, ihr unverstellter Blick, ihre absolute Sachlichkeit
prädestinierte sie dazu.
Sie kam nach Göttingen, als ich - promoviert und verheiratet - Göttingen
gerade verlassen hatte. Wir haben uns in Göttingen gar nicht kennengelernt.
Aber es war wiederum selbstverständlich, daß sie uns, wie viele
andere Phänomenologen, oft wochenlang dort besuchte, wo wir ansässig
geworden waren. Ihre Freunde waren unsere Freunde. Unsere Freunde waren
ihre Freunde. Wir hatten, wie gesagt, keine Fachsprache, aber wir sprachen
die gleiche geistige Sprache.
(...)
In der Klausur des Kölner Karmel schrieb Edith Stein ihr Werk "Vom
endlichen und ewigen Sein". Die Klarheit, die Blickschärfe,
die Sachlichkeit und vorurteilslose Kühnheit ihrer Ausführungen
sind höchst eindrucksvoll. Ja, auch die vorurteilslose Kühnheit.
Sie kritisierte den heiligen Thomas, wenn es ihr nötig erschien.
Es ist selbstverständlich, daß ihr als Karmelitin das Material
zum größten Teil aus dem speziell katholischen Offenbarungs-
und Glaubensgut zugeflossen ist. Aber ich glaube, es ist nicht richtig,
zu sagen, daß das Ganze eine Synthese zwischen Thomas und Husserl
sei. Wenigstens nicht in dem Sinne, als ob die einzelnen Ausführungen
mit der
Absicht
auf eine solche Synthese hin geschrieben seien.
Überall steht die Sache selbst, um die es ihr thematisch gerade geht,
im Vordergrunde. Immer ist es, wie Wust so schön sagt, ein Maßnehmen
an den maßgebenden Dingen. Und unter diesem Maßnehmen an den
Dingen wächst ihr die Möglichkeit zu, nicht nur Thomas, sondern
viele antike und mittelalterliche Philosophen mit neuesten philosophischen
Konzeptionen, besonders denen Husserls und seiner Schüler, zu einem
meisterlichen Maßwerk zu vereinigen.
In: Edith Stein: Briefe
an Hedwig Conrad-Martius. Mit einem Essay über Edith Stein, hrsg.
von Hedwig Conrad-Martius, München: Kösel, 1960
Sekundärliteratur zu Hedwig Conrad-Martius
Avé-Lallemant,
Eberhard: Hedwig Conrad-Martius (1888-1966) - Bibliographie. In: Zeitschrift
für philosophische Forschung 31:2, 1977, S. 301
Falk, Georg: Hedwig
Conrad-Martius. In: Zeitschrift des Vereins Historisches Museum der Pfalz
(Historischer Verein der Pfalz), des Pfälzischen Vereins für
Naturkunde Pollichia [u.a.]. - Kaiserslautern, J. 37, 1986, S. 87-89
Festschrift für
Hedwig Conrad-Martius. Philosophisches Jahrbuch der Görres-Gesellschaft.
Hrsg. von A. Wenzel [u.a.], Freiburg-München: Karl Alber, 1958
Gottschalk, Rudolph:
Hedwig Conrad-Martius: Abstammungslehre (Book Review). In: Deutsche Zeitschrift
für Philosophie 3:3, 1954, S. 732
Hader, Alois: Hedwig
Conrad-Martius: Schriften zur Philosophie Bd. I u. II (Book Review). In:
Philosophisches Jahrbuch 73:2, 1966, S. 403
Hering, Jean: Das
Problem des Seins bei Hedwig Conrad-Martius. In: Zeitschrift für
philosophische Forschung 13, 1959, S. 463
Prufer, Thomas: Hedwig
Conrad-Martius, Die Geistseele des Menschen. In: Philosophische Rundschau
11, 1963, S. 149
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