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Schutzmacht zwischen Fiktion und Fakt | NZZ

Schutzmacht zwischen Fiktion und Fakt

Unterstutzung der Genfer Nahost-Initiative, Zypern-Verhandlungen auf dem Burgenstock, Vermittlungsbemuhungen im Sudan: Die Guten Dienste der Schweiz geniessen eine Prasenz wie selten in den vergangenen Jahren. Doch inhaltlich haben sich die Akzente seit dem Ende des Kalten Krieges markant verschoben. Der Autor des folgenden Beitrages thematisiert den Bedeutungsschwund einer einstigen diplomatischen Paradedisziplin der Schweiz, der Vertretung fremder Interessen.

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Traditionell gilt die Schweiz als die Schutzmacht par excellence und die Wahrung fremder Interessen als zentrales Element ihrer klassischen Guten Dienste. Die Schutzmachttätigkeit dient dazu, zwischen zwei Staaten, welche keine diplomatischen Beziehungen unterhalten oder diese abgebrochen haben, ein Minimum an gegenseitigem Kontakt zu gewährleisten. So häufig wie kein anderes Land übernahm die Schweiz in der Vergangenheit in solchen Fällen die wichtigsten diplomatischen und konsularischen Tätigkeiten wie das Überbringen von Nachrichten, den Schutz von Angehörigen und Eigentum oder die Abwicklung von Pass- und Visa-Angelegenheiten für einen vertretenen Staat. Heute hat die Schutzmachtinstitution massiv an Bedeutung eingebüsst. Ihr Stellenwert im Rahmen der Guten Dienste hat markant abgenommen. In gerade noch vier Fällen vertritt die Schweiz zurzeit fremde Interessen. Hauptgrund für den Bedeutungsverlust ist die rückläufige Nachfrage.

Gefragter Dienst im Kalten Krieg

Die Wurzeln der helvetischen Schutzmachttradition reichen ins 19. Jahrhundert zurück. Ihre Reputation erwarb sich die Eidgenossenschaft in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts, als sie während des Ersten Weltkrieges 36 Mandate übernahm und ihre Schutzmachttätigkeit 1943/44 mit 219 Einzelmandaten für 35 Länder den Höhepunkt erreichte. Im Kalten Krieg wurde die Schweiz erneut - wenn auch auf reduziertem Niveau - zur ersten Adresse für die Repräsentation fremder Interessen. Ihre Erfahrung, ihre neutrale Haltung und ihr weitreichendes Netz von Vertretungen waren die Hauptgründe dafür. Bern kamen diese Mandate gelegen, da man damit hoffte, Disponibilität demonstrieren und die Neutralität in einem skeptischen Umfeld legitimieren zu können.

Untersucht man die Schwankungen der Anzahl schweizerischer Schutzmachtmandate, kann man sie direkt mit besonderen Ereignissen des Kalten Krieges in Beziehung setzen (vgl. Grafik). So hinterliessen die Suez-Krise 1956 oder die Regierungsübernahme Fidel Castros 1959 in Kuba deutliche Spuren. Die Spitzenwerte hingen mit Konflikten im Nahen Osten zusammen: 1967 stieg die Anzahl der schweizerischen Vertretungen nach dem Sechstagekrieg auf 22. Die Höchstmarke erreichte sie mit 24 Mandaten nach dem Oktoberkrieg 1973. Anfang der achtziger Jahre liess der Ausbruch mehrerer Kriege (Iran - Irak, Falkland) die Zahl auf 19 ansteigen.

Schutzmachtmandate waren indes nie exklusiv der Schweiz vorbehalten. Vor allem Schweden, das schon während der beiden Weltkriege 17 beziehungsweise 114 Interessenvertretungen übernommen hatte, wurde auch nach 1945 häufig angefragt. Zwischen 1952 und 1991 fungierte Stockholm 21 Mal als Hüterin fremder Interessen. Österreich war zwischen 1960 und 1991 6-mal als Schutzmacht tätig. In manchen Fällen bevorzugten es Staaten zudem, ihre Interessenwahrung nicht neutralen, sondern verbündeten Ländern anzuvertrauen. Beispielsweise vertrat Grossbritannien bis 1973 die Interessen der USA in der Volksrepublik China. Kuba wiederum liess sich in den USA bis 1991 durch die Tschechoslowakei repräsentieren.

Gegenwärtig sind die Zahl und die Bedeutung der schweizerischen Interessenvertretungen auf einem Tiefstand. Noch 4 Schutzmachtmandate nimmt Bern zurzeit wahr und vertritt die USA in Kuba, Kuba in den USA, Iran in Ägypten und die USA in Iran. Dazu kommt, dass die drei erstgenannten Mandate überwiegend formeller Natur sind. Effektiv werden hier die Geschäfte vor Ort von Interessensektionen der repräsentierten Länder wahrgenommen. Diese sind nominell der jeweiligen Schweizer Botschaft angegliedert, agieren in der Praxis jedoch weitgehend selbständig. So kümmern sich in der U. S. Interests Section in Havanna über 50 amerikanische und rund 300 lokale Angestellte um die meisten Belange. In Kairo, wo eine iranische Delegation stationiert ist, gehen die letztmaligen Dienstleistungen der schweizerischen Vertretung auf den Beginn der neunziger Jahre zurück. Auch während des Irak- Krieges ging keine Anfrage nach einer Schutzmachtvertretung in Bern ein.

Lediglich die Interessenvertretung für die USA in Iran, welche Bern 1980 nach der islamischen Revolution und der Geiselkrise übernommen hatte, rechtfertigt es gegenwärtig, von einer eigentlichen Schutzmachtpolitik der Schweiz zu sprechen. Diesem Mandat kommt noch am ehesten eine diplomatische Bedeutung zu. So unterstützte die Schweiz die Annäherung der beiden Seiten nach dem 11. September 2001. Doch der Handlungsspielraum ist gering. Im März 2004 meldete die Presse, Washington habe in Bern nach der Übermittlung eines iranischen Verhandlungsangebots eine Rüge wegen Mandatsüberschreitung deponiert.

Ursachen des Rückgangs

Für die geringe Bedeutung der Schutzmachttätigkeit im Rahmen der Schweizer Aussenpolitik wird gelegentlich der Bundesrat verantwortlich gemacht. Als Beleg wird seine abschlägige Antwort an Grossbritannien und Deutschland angeführt, als diese 1998 im Vorfeld der Nato-Intervention in Kosovo sondierten, ob Bern ihre Interessen in Belgrad vertreten würde. Der damalige Aussenminister Flavio Cotti rechtfertigte den negativen Entscheid mit einer allfälligen Evakuierung der Botschaft. Kritiker vermuteten hinter dieser offiziellen Begründung allerdings die Absicht, die schweizerische Aussenpolitik verstärkt der EU und der Nato anzupassen und sich von der traditionell-passiven Neutralitätspolitik zu distanzieren.

Mit seinem Entscheid trug der Bundesrat zum zahlenmässigen Rückgang der Schweizer Interessenvertretungen bei. Brasilien und Japan übernahmen später die betreffenden Mandate. Trotzdem greift ein monokausaler Erklärungsansatz zu kurz. Der rückläufige Trend setzte nämlich bereits vor zwanzig Jahren ein und ist nicht auf die Schweiz beschränkt. Die schwedischen Interessenvertretungen sanken seit 1991 von acht auf noch eine, während Österreich seit 1992 gar kein Mandat mehr wahrnimmt. Die Ursachen liegen also tiefer.

Die regressive Entwicklung ist Ausdruck eines generellen Bedeutungsschwunds der Schutzmachttätigkeit. Ausschlaggebend dafür ist in erster Linie das Sinken der Nachfrage, wofür zwei Faktoren massgeblich verantwortlich sind: Zum einen führte das Ende des Kalten Krieges bei vielen Staaten zur Wiederaufnahme der diplomatischen Kontakte. Im Fall der Schweiz wurde der Rückgang der Interessenvertretungen durch das Ende des Apartheid-Regimes in Südafrika noch akzentuiert. Zum anderen lässt sich dieser auf die Abnahme zwischenstaatlicher Konflikte zurückführen. Zur Beilegung der innerstaatlichen Auseinandersetzungen, die heute zahlenmässig klar dominieren, kann die auf internationale Spannungen ausgerichtete Schutzmachttätigkeit keinen Beitrag leisten.

Kein passives «Reservistendasein» mehr

Der Überblick zeigt, dass der Ruf der Schweiz als Schutzmacht aus historischer Perspektive gerechtfertigt ist. Es spricht nichts dagegen, dass sie sich bei Bedarf auch künftig für Interessenvertretungen zur Verfügung stellt. Doch gleichzeitig gilt es, die veränderten Rahmenbedingungen und den reduzierten Stellenwert der Schutzmachtinstitution nüchtern zur Kenntnis zu nehmen. Angesichts dieser Entwicklungen genügt eine Beschränkung auf ein passives «Reservistendasein» nicht mehr. Das aktivere und stärker multilateral ausgerichtete Engagement, welches die schweizerischen Guten Dienste in letzter Zeit kennzeichnet, ist deshalb angebracht. Denn nur im Kontext und als Teil einer aktiven Friedensförderungspolitik sind die Guten Dienste nicht nur traditionsreich, sondern auch zukunftsträchtig.

* Der Autor ist Historiker und wissenschaftlicher Mitarbeiter der Forschungsstelle für Sicherheitspolitik an der ETH Zürich. Der Artikel beruht auf einem Aufsatz zum Thema Gute Dienste im «Bulletin 2004 zur schweizerischen Sicherheitspolitik» (www.fsk.ethz.ch/publications/bulletin).