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Das Elefantengedachtnis der Kirche | NZZ

Das Elefantengedachtnis der Kirche

Papst Franziskus erhebt am kommenden Sonntag Johannes XXIII. und Johannes Paul II. zur Ehre der Altare. Seine beiden Vorganger unterscheidet vieles, verbindet aber auch manches.

Jan-Heiner Tuck
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Papst Johannes Paul II. im Jahr 1979 (links) und Papst Johannes XXIII. (Bild: Getty / Corbis / Dukas)

Papst Johannes Paul II. im Jahr 1979 (links) und Papst Johannes XXIII. (Bild: Getty / Corbis / Dukas)

Dass Päpste Päpste selig- oder heiligsprechen, ist in der Geschichte der Kirche immer wieder vorgekommen, hat sich in letzter Zeit aber auffällig gehäuft. Im Jubiläumsjahr 2000 hat Johannes Paul II., der mehr Selig- und Heiligsprechungen vorgenommen hat als alle seine Vorgänger, die Päpste Pius IX. (1848–1876) und Johannes XXIII. (1958–1963) seliggesprochen. Man konnte darin ein theologiepolitisches Signal erblicken, das die Weite des katholischen Traditionsbegriffs unterstreichen sollte.

Sowohl der modernitätsskeptische Pius IX., der das Erste Vatikanische Konzil einberief und die Kirche als Bollwerk gegenüber den Irrungen der Welt stärken wollte, als auch der betagte Roncalli-Papst, der überraschend das Zweite Vatikanum einberief und seiner Kirche eine Therapie des Aggiornamento verordnete, sollten gewürdigt werden. Die Lektion an die Adresse der Traditionalisten, aber auch der Reformer war, dass im Elefantengedächtnis der Kirche jeweils auch das Gegenläufige seinen Platz habe. Im September 2011 hat dann Benedikt XVI. unter Umgehung der üblichen Fristen seinen polnischen Vorgänger in Rekordzeit seliggesprochen – und am 27. April dieses Jahres wird nun Franziskus in einem spektakulären Grossereignis auf dem Petersplatz gleich zwei Päpste – Johannes XXIII. und Johannes Paul II. – zur Ehre der Altäre erheben.

Die «himmlische Kirche»

Dem religiös unmusikalischen Zeitgenossen – und nicht nur ihm – dürfte sich die Häufung der Selig- und Heiligsprechungen von Päpsten durch Päpste nur schwer erschliessen. Zunächst ist daran zu erinnern, dass sich die katholische Kirche als Gemeinschaft der Heiligen versteht, zu der, wie es in der Sprache des Konzils heisst, neben der «irdisch pilgernden» auch «die himmlische Kirche» gehört. Die Kirche hat eine eschatologische Tiefendimension, sie glaubt an ein Leben der Toten und erschöpft sich nicht darin, eine soziologisch beschreibbare Grösse zu sein. Ihre Gemeinschaft umfasst über die lebenden Mitglieder hinaus auch die Verstorbenen. Konkret werden zur «himmlischen Kirche» die Märtyrer und Heiligen gezählt, in deren Leben und Sterben das Evangelium auf besondere Weise Gestalt angenommen hat. Schon in der frühen Kirche wurden herausragende Zeugen des Glaubens verehrt und als Fürsprecher angerufen.

Anders als von «durchschnittlichen» Gläubigen, die mutmasslich noch einen therapeutischen Prozess der Läuterung durchlaufen müssen, bevor sie die ewige Seligkeit erlangen, glaubt die katholische Kirche von Heiligen sagen zu können, dass sie schon jetzt bei Gott leben. Sie nimmt an, dass ihr Urteil über die Heiligen mit dem Urteil Gottes zusammenfällt. Wer darin eine kühne Vorwegnahme des Jüngsten Gerichtes sieht, wird sich damit trösten können, dass den Heiligsprechungen keine Verdammungen gegenüberstehen. Im Blick auf das Böse übt die Kirche, die für die Dauer der irdischen Pilgerschaft sehr wohl Exkommunikationen ausgesprochen hat, eschatologisch Urteilsenthaltung: Kein Mensch, nicht einmal Judas Iskariot, ist bisher kirchenamtlich verdammt worden.

Selbstverständlich gibt es in der katholischen Kirche aber auch Heilige, die nicht offiziell als solche verehrt werden. Schon Paulus bezeichnete alle Christen mit dem Ehrentitel der Heiligen – und in der alten Kirche wurde vor der Kommunion gerufen: «Sancta sanctis» – die heiligen Gaben allein den Heiligen! Allerdings ist klar, dass neben dem Glanz der Heiligkeit auch die dunkle und schmerzliche Realität der Sünde existiert – auch in der Kirche. Daher geht einer jeden Selig- oder Heiligsprechung ein akribisches und oft langjähriges Prüfverfahren voraus, das unter Johannes Paul II. noch einmal neu geordnet wurde. Die Untersuchungen werden in der Diözese eingeleitet, in der der Kandidat oder die Kandidatin verstorben ist, ein «Postulator» sammelt alle relevanten Daten und leitet die Akte nach Rom. Dort wird der Prozess durch die Kongregation für die Heiligsprechung fortgesetzt und mündet im besten Fall ein in die Entscheidung des Papstes, den Namen des Kandidaten in das Verzeichnis der Heiligen – den Kanon – aufzunehmen. Per Dekret und von der Öffentlichkeit kaum bemerkt hat Franziskus in diesem Jahr bereits den Jesuiten Petrus Faber und drei Amerika-Missionare heiliggesprochen.

Ganz andere Aufmerksamkeit wird demgegenüber die öffentliche Zeremonie auf dem Petersplatz am kommenden Sonntag finden. Über die Würdigung der persönlichen Vollkommenheit hinaus sind Heiligsprechungen immer auch ein Instrument kirchlicher Gedächtnispolitik. Gerade dann, wenn Päpste heiliggesprochen werden, geht es neben der Person auch um das theologische Programm des jeweiligen Pontifikats. So drängt sich die Frage auf, warum Franziskus nicht etwa Pius XII., dessen Seligsprechungsverfahren wegen seiner umstrittenen Haltung gegenüber den Juden seit einiger Zeit stagnieren soll, sondern Johannes XXIII. und Johannes Paul II. heiligspricht. Dies dürfte nicht nur mit der besonderen Volksnähe der beiden, sondern auch mit dem Leitbegriff der Barmherzigkeit zu tun haben, den der Lateinamerikaner auf der Cathedra Petri zum theologischen Vorzeichen seines Pontifikats erhoben hat.

Barmherzigkeit

Beide Päpste, die nun heiliggesprochen werden, haben dazu – bei aller Differenz der Amtsführung – wichtige Impulse gegeben. Johannes XXIII., der im Volksmund schon bald «il papa buono» genannt wurde und in seinen Aufzeichnungen «Tagebuch einer Seele» berührende Einblicke in seine Frömmigkeit gegeben hat, wollte die antimodernistische Lähmung unter Pius XII. überwinden. Er gab den Anstoss zu einer folgenreichen Erneuerung. Die Kirche sollte sich den Herausforderungen der Moderne nicht in defensiver Abgrenzung, sondern im konstruktiven Dialog stellen. In seiner Ansprache zur Konzilseröffnung hat er den «Unglückspropheten» eine Absage erteilt und gefordert, statt der «Waffen der Strenge» die «Heilmittel der Barmherzigkeit» zu gebrauchen. Die in der Konzilsaula versammelten Bischöfe haben sich diese Vorgabe zu eigen gemacht und auf dogmatische Definitionen ebenso verzichtet wie auf lehramtliche Verurteilungen. Der neue pastorale Lehrstil des Konzils sieht potenziell alle Menschen als Adressaten des Evangeliums und versucht die Botschaft vom Heil in einer werbenden Sprache darzulegen.

Auch Johannes Paul II., der als junger Bischof von Krakau am Konzil beteiligt war und in Polen bereits zu Lebzeiten im Ruf der Heiligkeit stand, hat eine Affinität zum Thema der Barmherzigkeit. In seiner Enzyklika «Dives in misericordia» von 1980 hat er eine reiche, noch kaum rezipierte Theologie entwickelt, die in Jesus Christus die Inkarnation des göttlichen Erbarmens sieht. In Anlehnung an die Parabel vom verlorenen Sohn wird dort die Einladung zur Umkehr und Erneuerung mit den offenen Armen des barmherzigen Vaters verdeutlicht. Im Jahr 2000 hat Johannes Paul unter Berufung auf die von ihm heiliggesprochene Ordensschwester Faustyna Kowalska (1905–1938) den Sonntag der göttlichen Barmherzigkeit in den kirchlichen Kalender eingeführt.

Die charismatische Persönlichkeit Karol Wojtylas, sein wacher Sinn für symbolische Gesten, sein souveräner Umgang mit den Medien sind noch gut in Erinnerung. Auf seinen mehr als hundert «Pastoralreisen» hat er als Nachfolger Petri bis zur physischen Verausgabung seine Verbundenheit mit den Ortskirchen demonstriert. Diesen rastlosen Einsatz für das Evangelium wird Franziskus schätzen, der die Kirche in einen Zustand der permanenten Mission versetzen will. Um die Präsenz des Evangeliums zu stärken, hat Johannes Paul 1338 Selig- und 482 Heiligsprechungen vorgenommen. Man hat darin nicht ohne Grund eine inflationäre Entwertung gesehen, aber Wojtyla wollte gerade jungen Ortskirchen lokale Vorbilder im Glauben geben. Sein Einsatz für Menschenrechte und Religionsfreiheit, seine Verdienste im Dialog mit dem Judentum, aber auch mit dem Islam sind oft gewürdigt, von Traditionalisten freilich auch scharf kritisiert worden. An dieses Engagement kann und muss Franziskus anknüpfen, wenn er in einer zunehmend multireligiös geprägten Welt für das Christentum einstehen will.

Zwei neue Fürsprecher

In seinem vielbeachteten «mea culpa» hat der polnische Papst im Jahr 2000 schliesslich auch für die Verfehlungen der Söhne und Töchter der Kirche um Vergebung gebeten. Bei einem ungeschönten Rückblick auf sein Pontifikat wird man daher auch Probleme ansprechen dürfen. Sein eher gebrochenes Verhältnis zum Projekt der Moderne, die Stärkung des römischen Zentralismus, die sich vor allem in umstrittenen Bischofsernennungen niedergeschlagen hat, die Bevorzugung neuer geistlicher Bewegungen auf Kosten der Ortskirchen, aber auch die Spannungen zwischen römischem Lehramt und akademischer Theologie sind Hypotheken, die Franziskus nun weiter zu bearbeiten hat. Erste Weichen zu einer heilsamen Dezentralisierung hat er bereits gestellt, auch hat sich das Verhältnis zur Befreiungstheologie spürbar entkrampft. In den Fussspuren seiner Vorgänger wird Franziskus weiter für das Heilmittel der Barmherzigkeit – gerade im Blick auf die Armen und Marginalisierten – werben. Falls er dabei auf Widerstände stösst, kann er nun die beiden neuen Heiligen als Fürsprecher anrufen.

Prof. Dr. Jan-Heiner Tück lehrt dogmatische Theologie an der katholisch-theologischen Fakultät der Universität Wien.

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