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Tage in Mekka | Lettre - Europas Kulturzeitung Direkt zum Inhalt
Cover Lettre International 70, Abbas
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LI 70, Herbst 2005

Tage in Mekka

Vor der Kaaba, angesichtes des Hauses Gottes, vergisst man alles...

Medina hatte mich bereits ein wenig vorbereitet auf das, was ich in Mekka zu sehen bekame. Das milderte den Schock jedoch keineswegs. Autobahnen, Tunnels, weiße Wohnblocke mit vier, funf, zehn Stockwerken; dichter Verkehr und wie immer und uberall der Gestank von Benzin. Wir durchquerten die Straßen ohne besondere Aufmerksamkeit. Meine Begleiter waren wie die ubrigen Passagiere auf ein Ziel hin ausgerichtet, das sie der Stadt und der Verschmutzung gegenuber gleichgultig zu machen schien. Das oberste Ziel war, so schnell wie moglich unsere Unterkunft zu beziehen, um rasch in die Heilige Moschee zu gelangen.

?Anbetungen“ und Kulthandlungen beziehungsweise ?Kulte“: Mit diesen Begriffen ubersetze ich ibadat und manasik. Das waren die beiden Schlusselworter. Ich hatte es ein oder zwei Mal mit dem Wort tuqus versucht, aber es sagte niemandem etwas. Irgend jemand ubersetzte es mit ?Wetter“, wie bei der Vorhersage in den Fernsehnachrichten. Das wunderte mich nicht. Tuqus war eine jungere Adaptation aus dem arabischen Christentum zur Ubersetzung von ?Riten“. Ich war ubrigens der einzige, der das, was ich ebenso vollzog wie beobachtete, mit dem Wort ?Riten“ bezeichnete. ?Kulte“, manasik, was ich aus dem Munde ungebildeter Pilger nur selten horte, kam dafur in den Reiseberichten und den Predigten um so haufiger vor. Meine Begleiter, selbst die Gebildetsten, waren uber die genauen Bedeutungen des Worts nicht auf dem laufenden. Wenn sie jedoch sagten: ?Laßt uns zu den manasik gehen“, gebrauchten sie es im Sinne von ?Anbetung“ nicht nur im vorgeschriebenen Moment (wie zum Beispiel dem Morgengebet), sondern auch am obligatorischen Ort.

Unsere umra dauerte einen halben Tag. Nach zwolf Stunden Fahrt und einigem Hin und Her auf der Suche nach unserer Unterkunft erneuerten wir rasch unsere Waschungen und machten uns auf den Weg zur Heiligen Moschee.Wir gingen einen breiten Boulevard hinab, der von unterschiedslosen weißen Wohnblocken gesaumt war; es herrschte dichter, larmender Verkehr, es wimmelte von Menschen. Die Menge wurde um so kompakter, je naher wir der Moschee kamen. Plotzlich, an einer Straßenbiegung, sah ich zwei Minarette, die eine imposante, etwas ins Grau tendierende weiße Wand uberragten. Ich erfuhr, daß dies das Tor des Konigs Fahd Ibn Abdel-Aziz sei. Wir gingen rechts daran vorbei, um durch das ?Tor des Friedens“ einzutreten. Eine Lucke im Menschenstrom ausnutzend durchquerten wir den gewaltigen Saulengang, der den Weg zwischen den Hugeln Safa und Marwa uberdacht, und erreichten den Innenhof, in dessen Mitte sich die Kaaba erhebt. Endlich konnte ich sie ausgiebig betrachten. Wie jedermann hielt ich instinktiv fur einen Augenblick inne. Es war die Zeit zwischen dem Mittags- und dem Nachmittagsgebet. Da stand er nun, der große Wurfel von ungewohnten Ausmaßen, unter dem schwarzen Kleid samt seinem Fries aus goldenen Kalligraphien, das um alle vier Seiten herumlief. Die Uberraschung war groß, trotz einer gewissen unmittelbaren Vertrautheit und obwohl es eigentlich ein Wiedersehen war mit dieser Kaaba, die von Kindheit an einen Teil unseres Lebens bildete: durch die Koranlesungen, durch Diskussionen, Schriften, Zeichnungen, Gemalde, Photos, die Presse, das Fernsehen, Filme, Gedichte, Lieder, Erzahlungen?…

Wir gingen ans Gebet: zunachst die zwei obligatorischen Kniefalle und Verneigungen, um ?die Moschee zu grußen“, anschließend reihten wir uns in den kreisenden Menschenstrom ein. Unsere Umschreitung hob wie vorgesehen die sudsudwestliche, die sogenannte jemenitische Ecke besonders hervor. Unter ?Gott ist der großte!“- Rufen grußten wir das Gebaude mit erhobenem rechten Arm, wonach die Manner langsam, die Frauen etwas schnelleren Schrittes weitergingen. Und zwar gegen den Uhrzeigersinn. Augenblicklich wurden wir von den Kreisen der gewaltigen, in unablassiger Bewegung befindlichen Menschheit erfaßt. Uberall stiegen Gebete, Anrufungen und Klagegesange gen Himmel. Ein goldenes Licht hob das Ganze vor dem dunklen Hintergrund der Saulengange hervor, die sich in die Gegenrichtung drehten. Schwindelgefuhl. Ich wich nach links oder rechts aus, um den kraftigen schwarzen Helfern Platz zu machen, die alte oder geschwachte Leute auf Bahren trugen, die sie uber den Kopfen balancierten. Ich kreiste weiter, wobei ich dem Gebaude immer naher kam. Bei der siebten Umrundung konnte ich das Seidentuch beruhren, das ?Kleid“ der Kaaba. Die Menge, eine furchteinfloßend unbewußte Kraft, drangte in Richtung des schwarzen Steins. Ich machte eine weitere Umrundung in der Hoffnung, meine Hand uber die ihn schutzende Glasscheibe gleiten lassen zu konnen, als ich von der Menge gewaltsam fortgerissen wurde. Ich insistierte nicht, grußte von ferne und verließ langsam die sich bewegende Masse.

Manner und Frauen trieben ohne Unterlaß, wie von einer Art Magnetismus ergriffen, auf den schwarzen Stein zu, der von Wachtern, die keine offen sichtbaren Waffen trugen, geschutzt wurde. Andere druckten sich unter der gluhenden Sonne reglos und still an die Wande des Gebaudes. Zu den Gebeten kamen die Bitten hinzu: um Gesundheit oder um Linderung von Verzweiflung und Ungluck. Ich zog mich ein wenig nach hinten zuruck, wo die Saulengange etwas Schatten spendeten. Ich war unfahig, den Blick von dem seidig schimmernden schwarzen Wurfel abzuwenden. Um mich herum beteten Frauen, trugen Bitten vor, klagten und baten um Vergebung. Im Angesicht und Umkreis der Kaaba waren wir miteinander verbunden, fur uns selbst hingegen verboten durch den ihram, der die Grenzen der Korper und der Identitaten verwandelte, als Zeugnis einer Situation, der ich mir gar nicht bewußt geworden war. Ich wurde vom Gefuhl ubermannt. Tranen stiegen mir in die Augen, ohne hinauszukonnen, und stellten mich auf dieselbe Stufe mit den anderen. Ich werde vermutlich nie wissen, womit diese Tranen zusammenhingen. Das Erlebnis jedoch war absolut konkret und prazis, ich fuhlte mich, als ob ich durch den Anblick des ?Alten Hauses“ vollig entbloßt ware. Ohne jede Zuruckhaltung und vor allem ohne Furcht vor irgendeinem Gesetz. Die Religion vermittelte mir ihre Macht außerhalb des Gesetzes oder neben, uber, jenseits von ihm. Fern aller Autoritat der Gerichte! Die großen Gebaude der scharia, die mich in Medina erdruckt hatten, wurden hier immer kleiner, um schließlich hinter dem schwarzen Wurfel zu verschwinden. Von nun an besaßen die aberhundert Erklarungen, die ich so oft gehort hatte, einen Sinn: ?Welch ein Gluck, dort zu sein! Welch ein Gut, diese Gnade Gottes! Welch ein Gluck, all dies zu sehen!“ Oder: ?Der Anblick der Kaaba war das starkste Glucksgefuhl meines Lebens?…“ Ohne in die Intimitat dieser Menschen eindringen zu wollen, kann ich sagen, daß diese Satze von nun an fur mich einen Sinn besaßen.
Bald verließ ich die uberdachten Saulengange, um mich erneut in die Umschreitung einzureihen. Diesmal wurde ich hijr besuchen, den Ort, an dem sich nach der Tradition Hagar und Ismail aufhielten, nachdem sie von Abraham dorthin verbannt worden waren. Den von mir konsultierten Berichten zufolge hatte Sarah diese ?Magd“ nicht mehr toleriert, nachdem sie, die keine Kinder bekommen konnte, zuvor selbst den alternden Patriarchen aufgefordert hatte, sich jener Agypterin zu nahern. Eine niedrige Mauer aus Porphyr umgab die Stelle, deren Zugang von zwei goldenen Lampen eingerahmt wurde. Viele Frauen waren da, deren Zahl die der Manner deutlich uberschritt. Unsere Gruppe formierte sich neu, und wir gingen weiter, um an der ?Statte“ Abrahams zu beten, des Begrunders des ?ursprunglichen Islam“, der denselben Berichten zufolge seine Familie wiederfand, mit Ismail die Kaaba errichtete und Mekka grundete, die ?Mutter aller Stadte“. Wir verneigten uns zweimal vor einem kleinen Gebaude in Form eines Altars mit einer Kuppel aus Gold und Kristall, die eine brennende Lampe umhullte. Ich hatte gelesen, daß ? dies die Stelle ist, an der Abraham zum ersten Mal zum Gebet rief, wobei er sich nacheinander in die vier Himmelsrichtungen wandte“. Einige Schritte von hier stiegen wir zum ?Brunnen Zamzam“ hinab, einer Quelle, die Hagar durch ein Wunder entdeckte, nachdem sie zwischen den Felsen Safa und Marwa hin und her geirrt war. Eine Quelle des Lebens, die einer Version der Geschichte zufolge durch den Engel Gabriel offenbart wurde. Das Kind hatte Durst, sein Leben war in Gefahr. Hagars Muhen, ihre Ergebenheit und ihr Gottvertrauen wurden belohnt.

Hinter Salah, der sich spontan an die Spitze unserer Gruppe gesetzt hatte, um die Anrufungen zu rezitieren, stiegen wir rasch in ein feucht-heißes Untergeschoß hinab. Ich trank aus einem der Becher, die unter den Hahnen standen. Man mußte dies unter Anrufung der Tugenden dieses wundersamen Wassers tun, von dem ich bereits in der Moschee von Medina gekostet hatte. Eine hochmoderne Maschinerie pumpte das Wasser empor, das die Millionen nach Mekka stromenden Pilger benotigen. Abbes erwahnte das ?Gluck“, es ?wie alle anderen Pilger“ nach Marokko mitzubringen. Wir nahmen die Treppe, um zu dem einige hundert Meter langen Saulengang zu gelangen, der den obligatorischen Weg zwischen Safa und Marwa uberdacht. Siebenmal liefen wir diese Strecke zwischen den beiden Felsen ab, die sich kaum uber den Boden erheben. Die Manner in langsamem Gang, die Frauen in normalem Schritt. Zu laufen begann man erst ab einer gewissen Entfernung von den Felsen, Neonleuchten gaben die entsprechenden Grenzen an. An der Stelle, wo der Lauf shaira genannt wird, rezitierten wir ? die Manner mit lauter, die Frauen mit leiser Stimme ? den vorgeschriebenen Koranvers. Als die Umlaufe beendet waren, zogerte eine marokkanische Frau nicht, mir eine Locke abzuschneiden; der Haarschnitt ist fur beide Geschlechter vorgeschrieben. Plotzlich fiel mir wieder ein, daß shaira auch der Name jener Markierung ist, mit der die Opfertiere gekennzeichnet werden. Eine gewisse Verbindung zeichnete sich ab zwischen Markierung, Trennung, Gefuhl, Bewußtwerdung …

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